Goaßerstolz & Huarnfiich

Ziegen gehören zum Passeier wie Andreas Hofer, Speck und Schildhöfe. Knapp 6.000 Gebirgsziegen leben hier – gemeinsam mit 9.000 Menschen. Und das in Zeiten, in denen niemand mehr eine Goaß braucht und die Ziegenhaltung keinen Gewinn bringt.

 

Text: Judith Schwarz
Zeichnungen: Albert Mair

 
 

Irgendetwas scheinen die Goaßer, die Goaßer sein wollen, von ihren Vätern und Großvätern, die es sein mussten, geerbt zu haben. Es ist nicht der wirtschaftliche Zwang, die "Kuh des armen Mannes" zu halten, sondern die Leidenschaft für dieses Huarnfiich. Eine Sonderausstellung des MuseumPasseier versuchte 2011, diese unerklärliche Begeisterung zu erklären.

Wir starten mit Almidylle und Hirtenromantik.
Furmente, Tånderpuschn und Tschurschlin-Stallile (Murmeltier, Alpenrose und ein von Kindern gebauter „Stall“ mit Tieren aus Baumzapfen) sind Klischees einer idealen Almwelt. Ihr Anblick verzückt Tourist*innen und Einheimische. Erinnerungen an „Sommerfrische“, Wanderurlaub und die gute alte Zeit lassen im Kopf eine Gegenwelt zur Alltagshektik entstehen. Am Liebsten möchte man auch Hirte sein inmitten einer herrlichen Alpenlandschaft und friedlich grasenden Ziegen – und den ganzen Tag auf einem Grashalm kauen.

Viele Erwachsene erzählen heute stolz vom Gefühl der Verantwortung und des Erwachsenseins, wenn sie als Sechsjährige alleine Ziegen hüten mussten.
Ein Gefühl, das vielen Kindern heute fehlt – der Stolz auf die Pflicht. Es ist eine einfache Welt, und dennoch (oder deswegen) ist sie Luxus. Ganz besonders die Welt der Goaßer: Gerade, weil man Ziegen nicht mehr braucht, weil sie keinen finanziellen Gewinn bringen, weil sie einfach nur schön sein sollen und weil sie wertvolle Zeit kosten, die heute angeblich niemand mehr hat. Die in Ruhe genossene Pfeife, das Fernrohr, mit dem stundenlang beobachtet wird, die geduldige Schnitzarbeit aus Steckhölzchen, in der Zeit versteckt ist. Sie stehen für die Kunst, die Hirten beherrschen und viele Manager vergeblich zu lernen versuchen: Die Kunst des in sich Hineinhörens und Genießens. Das Hirtentum ist ein Überbleibsel einer der ältesten Kulturformen und verkörpert eine eigene Lebenshaltung und Weltanschauung.

Hirten waren angesehen als Viehdoktoren, Pflanzenkenner, Wetterfrösche, Handwerker und mitunter Erfinder.
Viele waren über das Tal hinaus bekannt, aber selten gaben sie ihr Wissen schriftlich weiter. Aber alles hat eine Kehrseite. So wurden Hirten im Laufe der Zeit auch als ungepflegte Nichtstuer, sonderbare Einsiedler, unstete Gauner und einfältige Sonderlinge gesehen. Genauso war das Leben als Hütbub kein Honiglecken. Oft waren die Kinder sich selbst und dem Drwailång (Heimweh) überlassen. Der Goaßer-Alltag sieht auch anders aus als romantisch: Im Winter täglich die eintönige Stallarbeit mit Dreck und Gestank. Auf der Alm unterbrechen Unwetter und verschwundene Tiere die Routine. Mühsame Wege bei jedem Wetter und oft gefährliche Situationen. Karge Kost im Mittoogkandele, raue Arbeitskleidung aus Lodenstoff, Sorgen um die Existenz und den Naturgewalten schutzlos ausgeliefert: Das gehört genauso zum Hirtendasein.

Auch um den Tod der Ziegen kommt der Goaßer nicht umhin: Totgeborene Kitze im Frühling, erfrorene oder unter Lawinen begrabene Ziegen im Winter, Abstürze und Schlachtungen.
Zum Thema Schlachtungen wird in der Ausstellung ein historischer Exkurs zum Handwerk des Struuzers aufgetan: Die Passeirer waren als Struuzer (Wandermetzger) bekannt. Sie handelten weithin mit Vieh und schlachteten es bei den Fleischmärkten in Meran und anderswo. Für die Struuzer war es ein guter Verdienst, für die Stadt Meran brachten die Fleischmärkte Gewinn, aber auch Beschwerden: Feuersgefahr, Schmutz, Gesundheitsgefährdung, Tierquälerei, Sittenverwilderung und lahmgelegte Geschäfte der Stadtmetzger. „Es ist eine schauderhafte Metzelei in der Stadt Meran, die im ganzen Kaiserstaate sonst gewiss nirgends vorkommt“, schreibt ein Zeitzeuge.

Während bei gefährlichen Ziegenkrankheiten heute der Tierarzt zur Stelle ist, hieß es für den Goaßer früher „Learning by doing“.
Behandlungen wie der Aderlass mit Fliëdn (Messer) und der Pansenstich mit dem Trokar (Eisenspitz) erfordern Fourtl und Schnaide (Know-how und Courage), da sie tödlich für die Tiere ausgehen können. Auf Abwehrzauber und alte Opferbräuche zurückgeführt wird der Glaube, ein alter lebender Ziegenbock im Stall (oder zumindest der Kopf oder die Hörner von einem geschlachteten Bock an der Stalltür) solle alle Krankheiten fernhalten. An besonderen Tagen wurde auch das Kraftfutter geweiht und den Tieren unters Heu gemischt, damit sie vor Krankheit und Unglück verschont blieben. Schwere Tierseuchen waren und sind auch heute noch Thema: Früher hatten sie harmlos klingende Namen wie Rausch und Trunk und waren Zauberwerk der Nörggeler. Heute heißen Ziegenkrankheiten CAE und Brucellose und werden mit „Ausmerzprogrammen“ bekämpft. Eine neue Sorge sind Bär und Wolf, die vermehrt auftauchen und für die ohne Aufsicht weidenden Ziegen gefährlich werden können.

Irgendwo zwischen diesen beiden Gegensätzen liegt die Realität.
In der Ausstellung ist dies der Film zwischen den Ausstellungsbereichen „Almidylle“ und „schauderhafte Metzeleien“. Die Aufnahmen zeigen die Gelassenheit der Hirten, die Stille, die unendliche Zeit und Muße, das Miteinander von Mensch und Tier, eine eigene Welt aber auch die tagtägliche Arbeit, den Dreck, den Gestank usw. Im zweiten Teil der Ausstellung wird es konkreter: Die Themen sind die „Psairer Goaß“, die „Goaßer-Kultur“ und „di schiane Goaß“. Seit einigen Jahren ist die "Passeirer Gebirgsziege" eine offizielle Rasse. Aber DIE Psairer Goaß gibt es nicht: Vielfältige Farbkombinationen machen verschiedene Abstammungen sichtbar. Das tut dem Stolz auf die Psairer Goaß keinen Abbruch. Zucht ist nicht nur Tierhaltung, sondern auch ein Stück Ideologie.

Passeier ist Südtirols Hochburg der Ziegen. Jede vierte Ziege lebt hier.
Sie sind der Stolz von über 300 Goaßern, die den Ziegenzuchtvereinen "Passeier" bzw. "Hinterpasseier" angehören. Auch Frauen halten Goaße. In Passeier sind es über 40. Die Frau auf der Spielkarte Schellsieben ist übrigens keine Goaßerin, sondern eine Karikatur auf die „Weiberherrschaft“.

Aber warum gab und gibt es gerade in Passeier so viele Ziegen?
Weil die schwer zugänglichen und kargen Passeirer Felsgegenden ideal für die Ziegenhaltung sind? Weil sich die vorwiegend armen Passeirer auf ihren kleinen Höfen dank Ziegen über Wasser halten konnten? Allein daraus lässt sich die Passeirer Ziegenleidenschaft nicht erklären, denn diese Voraussetzungen wären auch anderswo gegeben. Letztendlich ist die Goaß-Passion nicht reduzierbar auf bestimmte Faktoren und gehorcht keiner Logik.

Zur Frage, warum manche Menschen Tiere lieben und andere nicht, streiten Wissenschaftler*innen schon lange.
Ein Goaßer hat es simpel aber treffend erklärt: Entweder men isch a Goaßnårr oodr men isch kuander! Die Liebe der Goaßer zu den Tieren zeigt sich auch in den Ziegennamen. Viel mehr als Schafe werden Goaße als Individuen gesehen und erhalten traditionelle oder moderne Namen. Auch kennen Goaßer ihre Tiere auseinander, denn Goaßgesicht ist nicht Goaßgesicht! Trotzdem hat das Mårch – das Einzwicken von Kennzeichen in den Ohren Tradition. Mittlerweile sind Plastikplaketten und elektronische Magenkapseln Pflicht.

Es ist eine eigene Kultur – die Goaßerkultur.
Vor allem die Goaßer haben sich vieles von der Hirtenmentalität bewahrt: Die Bekleidung, die Gebärden, die Sprache. Höhepunkte im Goaßer-Jahr sind die Ziegenausstellungen, die wie Misswahlen ablaufen: Bärte biegen, Fell kämmen, Hörner polieren. Wie a schiane Goaß auszusehen hat, ist ein wandelnder Trend, den in Südtirol vor allem die Passeirer setzen.

Fatal für die Zucht ist es, wenn ein schiacher Pock mit einer schianen Goaß verkehrt.
Noch kurioser als es klingt, muss es ausgesehen haben, wenn Ziegenböcke zur Vermeidung solch einer unerwünschten Liasion „Bockhosen“ trugen. Sicherer war da das Ooziëchn (Kastrieren). Trotzdem bleibt die Zucht ein Glückspiel, und deshalb wahrscheinlich interessant. Der Goaßer weiß nie, werden die Kitze einfärbig, stroolit (Stahlenzeichnung am Kopf) oder gånsit (hell-dunkle Mantelfärbung) bzw. bloob (grau-bläulich), roat (rötlich), geel (gelblich), pråntlt (dunkelbraun), griislt (grau-braun), verbrennt (beige), schwarz oder liëcht (weiß). Die verschiedenen "Goaß-Typen", Untergruppen und Farbkombinationen, die die Goaßer-Sprache kennt, sind selbst für Einheimische mit gutem Dialektverständnis verwirrend.

Zur schönen Ziege gehört auch eine Schelle.
Schellen sind Schmuck, Signalinstrument, Besitzkennzeichen, Ehrengabe, Lärminstrument und Souvenir. Sie sind außerdem der Stolz der Goaßer und begehrtes Sammelobjekt. Schellen von alten bekannten Schmieden sind rar. Wenn bisweilen eine Kranzschelle oder Fakklschälle verkauft wird, erzielt sie fantastische Preise von 2.000 Euro oder mehr. Eine Besonderheit sind die alten Schellbögen aus Nussbaumholz mit Blechverzierungen. Heute sind Lederriemen gebräuchlich. Die älteste Passeirer Viehschelle ist übrigens über 1.000 Jahre alt. Archäologen vermuten, dass der Klang der Schellen ursprünglich vor bösen Almgeistern schützen sollte. Passend zu dieser Fülle an Goaßerliebe und Schellen-Sammelleidenschaft zeigt auch der zweite Film zu Beginn die innigen Momente der Goaß-Goaßer-Beziehung und die Miër-sein-Miër-Mentalität der Goaßer, die mitunter auch ins Folkloristische ausschlägt, alles untermalt von den Klängen von „Heidi“ (Wenn du uns Goaßer verstehen willst, schau dir einen Heidi-Film an, hat mir mal ein Goaßer empfohlen!). Und dann wechselt der Film vom „Goaßerstolz“ zu Huernfiich (voilà der Titel der Ausstellung) und zeigt die andere Seite der Goaß.

Anders als die friedfertigen Schafe, die geschlossene Herden bilden, haben die gewitzten Ziegen einen sehr individuellen und widerspenstigen Charakter.
Kein Goaßer, der nicht auf seine Lieblinge schimpft und sie verflucht. Schließlich sind sie immer dort, wo sie nicht sein sollen. Zäunt man die Goaß in ein Grundstück mit schönster Wiese ein, sucht sie nach einem Ausweg, um außerhalb des Zauns zu kommen. Zäunt man das selbe Stück Wiese ein und stellt die Goaß davor, versucht sie alles um innerhalb des Zaunes zu kommen. Verständlich, dass Huernfiich in Passeier so etwas wie ein zweiter Name ist (obwohl das Fluchwort mitunter von den Goaßern nicht so gemeint ist – sie sind ja auch stolz darauf, dass ihre Goaße einen eigenen Grint haben). Viele Ziegen, die den ganzen Sommer ohne Aufsicht auf der Alm verbracht haben und „verwildern“ sind im Herbst relativ schwer einzufangen. Deshalb melden die Passeirer Fundämter im Spätherbst nicht nur verlorene Schlüssel und Ohrringe, sondern informieren über zugelaufene Kitze und vermisste Böcke. So lustig, wie es sich anhört, ist es aber nicht: Vor allem das „Ausheben“ einer Goaß, die sich in einer Felswand verstiegen hat, ist eine immense körperliche und gefährliche Herausforderung für den Goaßer und fordert auch Todesopfer.

Willsche a Ggstriit, når richt der Goaße“, sagte stets mein Opa.
Vielleicht erzählen deshalb so viele Geschichtsquellen von den "Weidenei-Streite" in der Ziegenhochburg Passeier. Ob es wegen der Ziegen auch vermehrt „Ehe-Streite“ in Passeier gibt, lässt sich nicht sagen. Aber so manche Goaßer-Ehefrau wird mitunter über das Hobby ihres Mannes schimpfen. Vor allem wenn der Gatte Feierabend, Wochenende und Urlaub seinen Goaßen widmet und täglich den unverwechselbaren Ziegenduft nach Hause bringt.

Aber Ziegen sind zäh.
Wegen ein paar strafzettelschreibenden Förstern oder nudelholzschwingenden Ehefrauen lassen sie sich nicht unterkriegen. Und dass es Goaße auch weiterhin geben wird, prophezeit ein altes Passeirer Sprichwort:

„Goaße unt Huarn weern sii nit oodrschåffn!“
(Ziegen und Huren wird man nicht abschaffen können)

Sonderausstellung ab 15. Mai 2011
Goaßerstolz & Huarnfiich. Die Passeirer Gebirgsziege

Impressum der Ausstellung
Idee: Harald Haller
Konzept und Texte: Judith Schwarz
Inhaltliche Mitarbeit: Albin Pixner
Grafik: design.buero
Zeichnungen: Albert Mair
Filmschnitt: Stefan Holzknecht

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