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Die Jungen suchen nach dem Alten
Ein Erfahrungsbericht über die Arbeit an Chronik.Passeier.
Foto: MuseumPasseier.
Ein Erfahrungsbericht über die Arbeit an Chronik.Passeier
Von David Hofer
Vorneweg, ich zähle mich selber natürlich nicht mehr zu den jungen Leuten. Doch bei der Arbeit rund um die entstehende digitale Chronik ist es auffällig, wie viel Einsatz und Begeisterung von den Mitarbeitenden eingebracht wird. Seien es Mittelschüler*innen im Sommerpraktikum beim Einscannen der Sterbebildchen oder Oberschüler*innen und Student*innen beim Transkribieren der Taufbücher.
Aber am besten fangen wir von vorne an. Chronik.Passeier (hier gehts zur dazugehörigen Website) ist ein Projekt, welches sich schon länger in der Ausarbeitung befindet. Die Gemeinde St. Martin entschied sich gegen ein handelsübliches Dorfbuch, sondern wollte einen moderneren Ansatz und vor allem die Möglichkeit der Partizipation für alle bieten. Mein erster Beitrag hierfür war Bildbearbeitung von digitalisierten Sterbebildchen. Das Museum scannt nun schon länger Dokumente ein, damit diese in hoher Qualität erhalten bleiben und nicht irgendwann einfach verschwinden.
So saß ich also am Empfangsbereich des Museums: Ich richtete im Programm die Bilder aus, nahm Zuschnitt und Korrekturen vor und exportierte sie. Öfters vermutlich auch denselben Schritt mehrmals, da Besucher*innen meine Aufmerksamkeit benötigten und ich – zurück am Computer – nicht mehr wusste, bei welchem Schritt ich gerade stehengeblieben war. Daher zur Sicherheit lieber nochmal von vorne beginnen.
Mit dem Näherrücken der Sommerferien kam eine weitere Aufgabe hinzu: Das Transkribieren der historischen Taufbücher. Von A3-Kopien der Kirchenbücher wurden Nummern, Personennamen und Geburtsdaten in eine Google-Tabelle übertragen. Die sogenannte Kurrentschrift stellte uns oft vor Herausforderungen. Man hatte zwar irgendwann die Handschriften der meisten Pfarrer entschlüsselt, aber kamen schlampig gescannte Stellen, eine seltsame Formatierung oder einfach ein ungewohnter Name stockte es wieder.
Ausschnitt von 1862 aus dem Taufbuch der Jahre 1834 bis 1888 von St. Leonhard in Passeier (Screenshot aus: Kirchenbücher Südtirol online des Südtiroler Landesarchiv).
Doch ehrlich gesagt waren diese Herausforderungen oft der schöne Teil der Arbeit. Zumindest wenn irgendwann der Heureka-Moment kam und man mit Zuversicht den Namen eintippen konnte. Hin und wieder war es zugegeben auch frustrierend. Irgendwann konnte man schließlich die Buchstaben n, e, u und r voneinander unterscheiden, welche zu Beginn noch identisch ausgesehen hatten.
Zudem lernten wir neue Begriffe. Vorher wusste zumindest ich nicht, was ein Reduplikationsstrich ist. Da das Wort aber recht lang ist, blieb es beim Ansagen der Schreibweise An̅a trotz des erworbenen Fachwissens einfach bei „Anna mit Strich“.
Beim Transkribieren arbeitete man zu zweit in Teams. Eine Person entzifferte, die zweite Person tippte in die Tabelle. Häufig aber grübelte man gemeinsam über die Einträge. Woos soll denn dës do hoaßn?, Na, der Pfårrer håt do gimaatscht – und schon war man gemeinsam über einen Eintrag gebeugt und versuchte detektivisch zu ermitteln, wer dieser Mensch aus der Vergangenheit war, damit er oder sie den korrekten Eintrag in unserer Chronik bekommen würde.
Bezüglich der Namen gab es damals wie heute Trends. Eine Zeitlang war Franz Joseph der Renner, Maria und Anna sind selbstverständlich stark vertreten, Sebastians und Ursulas in Schweinsteg sehr beliebt. Andere Namen – Vornamen wie Hyacinth, Hypolitt und Hieronymus bzw. Nachnamen wie Klotzbücher und Krautschneider oder Sutara und Masnövo – sind heute mehr oder weniger im Tal ausgestorben.
Interessant sind dabei Schreibweisen, die sich oft verändern. Schifer/Schiefer, Öttl/Oettl/Öettl, Lahnthaler/Lanthaler, Spiss/Spieß, Oberprantacher/Oberprandacher und dergleichen mehr. Und in Bezug auf Schreibweisen muss ich den Namen Krescenzia erwähnen. Oder sollte ich Crescentia sagen? Womöglich auch Creszencia. C, k, z und t sind in diversen Kombinationen zu finden.
Wer findet Krescenz mit K, c, z? Oder eine “Anna mit Strich”? Schau links bei den fortlaufenden Nummer, geh bis zur Nummer 33, in der dritten Spalte findest du (unterstrichen) Haller Krescenz An̅a. Ausschnitt von 1882 aus dem Taufbuch der Jahre 1860 bis 1922 von St. Martin in Passeier (Screenshot aus: Kirchenbücher Südtirol online des Südtiroler Landesarchiv).
Hin und wieder nahmen wir die künstliche Intelligenz zur Hilfe. Mit Google Lense wurde am Smartphone der Name eingescannt und dann mit Spannung erwartet, ob die AI eine Hilfe war. Meistens maximal, indem sie einzelne Buchstaben entzifferte. Unsere typischen Passeirer Namen waren für die AI dann in den meisten Fällen doch zu exotisch.
Um nicht nur vom Entziffern zu erzählen, möchte ich zwei Beispiele einfügen. Es sind Situationen, bei denen ich selber Schwierigkeiten hatte. Die folgenden Namen (farbig eingekreist) hatte ich öfters verwechselt, wie ich später beim nochmaligen Kontrolllesen erfuhr.
Für jene, die sie nicht selber entziffern konnten: einer davon ist Paul, der andere Carl. Aber nicht in der Reihenfolge wie ich sie hier gerade geschrieben habe, sondern anders herum. Also der erste Name ist Carl und der zweite Paul.
Fast schon zum Running Gag wurde der nächste Name.
Schon eine Idee? Meine erste Lösung war damals Hanna. Komplett falsch. Der Name hier ist Theres. Ich hatte bereits vor dem Auftauchen dieses Namens Probleme, den Namen Theresia zu erkennen. Häufig gab ich beim Transkribieren zu, dass ich bei einem Eintrag nicht wirklich weiterkam und ein schneller Blick des Teammitglieds, gefolgt von einem kleinen Schmunzeln, brachte die Lösung: Dës isch wiider Theresia. Kaum hatte ich das Gefühl, den Namen Theresia endlich geknackt zu haben, wurde ich mit Theres erneut in die Schranken gewiesen.
Es waren aber nicht nur die Namen, die oft herausfordernd waren. So kam es, dass einige Pfarrer beim Monat plötzlich etwa „8er“, „9er“ und „10er“ nutzten. Das sind nicht August, September oder Oktober. Stattdessen beziehen sie sich auf die lateinischen Namen und bedeuten damit Oktober (8er), November (9er) und Dezember (10er).
Wenn man nicht zu sehr über Einträge rätseln musste, gab es ständig Verlockungen, sich ablenken zu lassen. Neben der selbstverständlichen Ausschau nach möglichen eigenen Vorfahr*innen, wurde es immer spannend, wenn man sich dem eigenen Geburtstag näherte. Ob wohl jemand im Tal aus der Vergangenheit den Tag mit mir teilt? Und dann amüsante Situationen, z.B. als die beiden heute ungewohnten, aber durch Harry Potter berühmt gewordenen Namen Hermine und Hedwig mit wenig Abstand hintereinander auftauchten.
Oft war es am Ende gut, dass das Lesen der Schrift nicht zu einfach war. Ansonsten hätte man sich wohl in den Details verloren. Besonders bei ungewohnten Namen war dies der Fall, oftmals Kinder von k. u. k. Beamten im Tale. Bei Findelkindern oder sogar Adeligen wurde man besonders neugierig und schweifte eher zu den übrigen Anmerkungen ab. Wer waren die Eltern? Was war deren Beruf? Wo wohnten sie? Diese Details werden der Chronik in einem späteren Schritt hinzugefügt, zuerst galt es einen Grundstock an Daten zu erstellen.
Für manche Härtefälle gab es schlussendlich nur eine Lösung: Ein Team von uns musste ins Pfarrarchiv und betrachtete nochmal das Original. Trotzdem bleiben Rätsel offen. So etwa die sogenannten Matrikelakten Nr. 8, auch Extrabuch genannt. Es wird mehrmals darauf verwiesen, aber bisher konnten wir es nicht finden und auch nicht wirklich erfahren, um was es sich dabei genau handelt. Es steht jedenfalls in Verbindung mit später nachgetragenen Kindern, welche irgendwo zwischen den anderen Einträgen noch „reingequetscht“ wurden.
Apropos später hinzufügen – das oben erwähnte Einscannen der Sterbebilder hat den Zweck, dass dadurch möglichst viele der Namen ein Gesicht bekommen. Die Bilder werden mit den jeweiligen Personeneinträgen verknüpft werden. Die digitale Chronik.Passeier soll den Anreiz geben, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen sowie die Familien- und Talgeschichte zu erfahren und weiter zu erforschen. Aus diesem Grund möchte diese Chronik interaktiv sein und die Beteiligung der Talbevölkerung fördern. Ähnlich wie bei einem Wiki sollen die Menschen selbst Einträge anlegen oder Informationen ergänzen können. Noch wird es jedoch ein wenig dauern, bis es soweit ist.
Von den Zukunftsplänen zurück zum Transkribieren. Im Moment werden die erarbeiteten und kontrollgelesenen Daten von den Programmierern implementiert. Nun gilt es zu sehen, ob es so klappen wird, wie wir es uns wünschen. Unsere bisherige Arbeit umfasst die Taufbücher von St. Martin (ab 1842), St. Leonhard teilweise inklusive Walten und Stuls (ab 1851) und Schweinsteg (ab 1860) bis 1923. Sobald wir diesen Schritt weiter sind, wird wieder gegrübelt, getippt und geschmunzelt werden. Ein erst kürzlich stattgefundenes Treffen hat jedenfalls gezeigt, die jungen Mitarbeiter*innen sind motiviert und begeistert.
Du magst mitmachen?
Melde dich unter chronik@passeier.it oder bei Magdalena (349 6506352) oder bei Dominik (347 7631041).
Hand in Hand
Studierende der New Design University St. Pölten und der Transilvanian University Brasov erprobten: Was spielt sich bei handwerklicher Arbeit im Team ab?
Alle Fotos: Thomas Gronegger.
Studierende der New Design University St. Pölten und der Transilvanian University Brasov erprobten:
Was spielt sich bei handwerklicher Arbeit im Team ab?
Von Thomas Gronegger, Hansjörg Alber und Alin Olarescu
Handwerkliches “Allroundkönnen” spielt in traditionellen landwirtschaftlichen Orten eine große Rolle. Verbunden damit sind besonderes angeeignetes Wissen und Erfahrung und das sich gegenseitig Helfen und Aushelfen. Daraus inspiriert wurde eine einwöchige Formenwerkstatt mit Studierenden entwickelt, die einfache konstruktive und bauliche Strukturen in realer Größe in Passeier umsetzt.
Dreizehn Studierende der New Design University St. Pölten und der Transilvanian University Brasov fragten nach Qualitäten und Werten gemeinschaftlicher handwerklicher Arbeitsprozesse. Sie stellen sich deshalb vom 8. bis 12. Mai 2023 im MuseumPasseier und in einem Permakultur-Garten in St. Martin dem Skizzieren, Gärtnern, Mauern und Zimmern. Im Freilichtbereich des MuseumPasseier wurde der Wert zeichnerischer Analyse von Vorbildern betrachtet, in St. Martin gab es Einführungen und Impulse durch die Fachkräfte Gerhard Kofler, Alin Olarescu und Friedrich Lanthaler für den handwerklichen Umgang mit Stein, Holz und Schindel, schließlich wurden in gemeinschaftlicher Arbeit eine Trockensteinmauer und eine gezimmerte Holzstruktur errichtet.
Hier einige Auszüge aus den analysierten und beschriebenen Qualitäten verschiedener handwerklicher Phasen des Zusammenarbeitens:
Zu Beginn ging es um die Rolle des gemeinsamen Anschauens von Vorbildern, bevor eine Gruppe eine gemeinschaftliche handwerkliche Arbeit angeht.
Und im Genaueren ging es darum, welche Methoden eine Gruppe anwenden kann, um das Angeschaute zu erfassen, zu analysieren, zu dokumentieren und letztlich zu verinnerlichen, um dann im späteren handwerklichen Gestaltungs- und Arbeitsprozess auf gemeinsame Erkenntnisse und Einsichten zurückgreifen zu können.
Das Zeichnen stellte sich als einfaches Mittel dar, den Blick auf konstruktive, proportionale, materielle, haptische, atmosphärische Qualitäten zu lenken.
Maß nehmen am Objekt und seinen konstruktiven Elementen schaffte sofort eine Ahnung, wie etwas dimensioniert werden kann und welche Wirkung es hat.
Die Referenzgebäude im MuseumPasseier waren zwar (von den Forschenden) ausgesucht, drängen aber als Objekte ihr Wesen nicht auf. Sie wurden zu einer Art still lehrenden Instanz.
Noch bevor das eigentliche Arbeiten startete, erlebte man also das Sehen und Wahrnehmen der Anderen auf den analytischen Skizzenblättern mit – schlüpfte sozusagen in deren Art des Denkens mit hinein.
Man lernte nicht nur von den Anderen, sondern entwickelte auch ein Gespür für die Vielfalt der Talente und Fähigkeiten der Anderen. Daraus kristallisierten sich besondere Naheverhältnisse oder komplementär ergänzende Herangehensweisen heraus.
Durch Gespräche mit Personen großer Erfahrung vor Ort betteten sich die Dinge greifbar und verständlicher in Geschichte, Geschichten, Kultur und Umfeld ein.
Es wurde auch bewusst, wie schwierig teils das von Fachleuten Vorgemachte nachzuahmen ist, obwohl es beim Zuschauen so leicht aussieht. Paradox klingt, dass die vorgeführte Arbeit für einige Studierende „leicht“ aussah, zugleich von einigen Studierenden als anstrengend und schwierig empfunden wurde.
Welche Perspektive nimmt man beim Betrachten des Vormachens einer Handlung ein? Betrachtet man das Vorführen von Arbeitsschritten passiv zuschauend, aus ästhetisch-rhythmischer Perspektive, die der Geschicklichkeit und dem Schauspiel des handwerklichen Gelingens Respekt und Freude abgewinnt, so bewundert man vermutlich die (scheinbare) Leichtigkeit, die aus jahrelanger Erfahrung und Routine resultiert.
Betrachtet man hingegen das Vorführen aus der Perspektive des praktischen nachfolgenden „Nachmachen-Wollens“, so versucht man sich jede Bewegung, jeden Griff, jede Haltung in Bezug auf Werkzeug, Material und dessen Bearbeitung, einzuprägen. Und das ist anstrengend!
Man lernt als Körper und mit dem Körper, und das ist ein anderes Lernen, als nur passiv verstehendes Nachvollziehen. Beim eigenen tätigen Einsatz merkt man, dass man es zwar theoretisch verstanden hat, aber physisch-körperlich-motorisch noch nicht zustande bringt.
Das theoretische Verstehen ist also nicht komplett und bedarf des körperlichen Verstehens. Dieses wiederum bedarf aber des Erprobens, des Lernens des richtigen Greifens, der richtigen Bewegung, der richtigen Koordination und des richtigen Rhythmus. „Richtig“ meint hier insbesondere auf den eigenen Körper, die eigene Kraft angepasst und abgestimmt.
Und dann fehlt immer noch die oft notwendige jahrelange Routine, nicht allein der körperlichen Balance und Geschicklichkeit, sondern gerade auch des abschätzenden oder auswählenden Blickes gegenüber dem Material (welcher Stein eignet sich für die Lücke, wie drehe ich das Holz und setze zum Spalten an, etc.?). Diese ungeheuerliche Form von Intelligenz, die so eng mit dem Körper verschmilzt, wird nur denen bewusst, die sich auf diese Arbeit einlassen.
Bewusstsein hingegen, der erforderlichen Geschicklichkeit, der Schwere der Arbeit und auch der Verletzungsgefahr trägt zu dieser Ernsthaftigkeit des Entgegenbringens von Interesse gegenüber den zeigenden Fachleuten bei. Zugleich wird es wohl auch das Bewusstsein sein, dass es nur noch wenige Handwerker gibt, die diese rare Erfahrung weitertragen und vermitteln können.
Es ging in der einwöchigen Formenwerkstatt also auch um die Geduld, die das körperliche Lernen erfordert und auf seine Weise mindestens so komplex ist, wie das rein mentale Lernen. Geistiges Verstehen ist anders als geistig-körperliches Verstehen. Eine Neubewertung handwerklicher Intelligenz steht an.
Von Handwerkern und Handwerkerinnen die sich der Bewahrung und Weiterentwicklung solcher Themen widmen, strahlt meistens eine Begeisterung, innere Tiefe und Verbundenheit aus, die sich oft auch in geerdet philosophischen Betrachtungen äußert. Es geht ihnen um mehr als um den Lebenserwerb. Sie verstehen sich als innigen Teil der Kultur und Landschaft.
Es handelte sich bei den Arbeiten anlässlich der Formenwerkstatt in Passeier nicht um „Als ob”-Handlungen, sondern um bleibende Umsetzung sinnvoller Strukturen für den Ort. Die Materialien wurden von den Mitwirkenden teils selbst aus der Gegend gewonnen (Steine aus dem Bach, Holz und Stecken vor Ort im Gebüsch geschnitten, Balken von abgerissenen Dachstühlen). Alles das trug zum Bewusstsein der Sinnhaftigkeit und Ernsthaftigkeit des eigenen Tuns für den Ort bei.
Abgesehen davon wurde eine Verbindung zu dem Ort allein dadurch aufgebaut, dass man täglich viel Zeit dort verbrachte und „Spuren“ hinterließ. Der Ort ist nicht mehr fremd, weil man für diesen etwas beigetragen hat. Ein Student beschrieb es so: „Man steckt etwas von der eigenen Seele hinein“. Handwerkliches Arbeiten für einen Ort, das sichtbar Bleibendes produziert, wird offenbar als ein Wirken empfunden, das über sich selbst hinausweist.
Es stellte sich aber nicht nur ein Bezug zum Ort, sondern auch zu den Menschen her, die das Geschaffene weiterpflegen und verwenden werden.
Der gemeinsamen Arbeit ging das Bewusstsein einher, gemeinsam etwas zu schaffen, zu dem man kein Vorwissen hat:
„It is amazing what people can achieve without previous knowledge …”
In der Gruppe bildete sich eine motivierende Kraft, ohne die man schnell dazu neigen würde, aufzugeben: „Ich kann das nicht!“ Können es aber viele noch nicht und probieren es trotzdem, bildet sich im Dabeistehen und Zuschauen schnell der Wunsch, „es auch zu probieren“ – so entstand ein Sog.
Weiters ging es darum, Wege zu finden, alle nach ihren Fähigkeiten und Talenten einzubinden bzw. die Einbindung auch für diejenigen leicht machen, die es schwerer haben. Das verlangte weder Vereinheitlichung, noch „einen kleinsten gemeinsamen Nenner“. Im Gegenteil: Es erlaubte und verlangte Vielschichtigkeit in der Schwierigkeit und Leichtigkeit der Herausforderung durch die Aufgabenstellungen.
Auch wenn manche geschickter waren, fanden trotzdem alle eine sinnvolle Rolle im Spektrum der hilfreichen Tätigkeiten und konnten wichtiger Teil des schaffenden Gruppenkörpers werden – selbst wer nicht im hauptausführenden Zentrum stand. Zuarbeiten, Vorbereiten, Handlangen sind keine minderwertigen Tätigkeiten!
Interessant ist, dass sich zwar ausführende und assistierende Arbeit von der Wertigkeit her differenzieren lassen, andererseits wiederum das gute Gelingen der hochwertigeren Arbeit ohne der assistierenden Arbeit nicht zustande kommen kann. Dabei kann es vorkommen, dass die assistierende Arbeit und ausführende Arbeit so einfühlend aufeinander eingespielt ist, dass sie nicht ersetzbar ist. Diese Art von Team wird hinsichtlich der Qualität zu einer nahezu untrennbaren Einheit.
Jeder Arbeitsschritt hat seinen eigenen Charakter, seine eigene Denkweise, seine eigene Mühe, seine eigene Poesie, seine eigene Lockerheit oder seine eigene Spannung.
Weil sich beispielsweise Steine nicht “nach Rezept” verlegen lassen oder so groß sind, dass sie kaum alleine zu heben oder zu versetzen sind, waren mehrere Personen an den Entscheidungen beteiligt. Diese zeigten sich dann sichtbar und bleibend in der Qualität der gebauten Mauer – ein Gedächtnis getroffener Entscheidungen!
Die Gruppe wurde zu einem Körper, der mit wenigen Gesten, Blicken, Worten untereinander kommunizierte und diese Spannung im besten Fall bis zum Gelingen des herausfordernden Arbeitsabschnittes hielt.
Jeder und jede hatte zu tun, Antworten und Ideen hatten Zeit.
Es entwickelte sich eine ganz besondere Form des miteinander Sprechens.
Ein weitere Beobachtung betraf die Weitsicht und das vorausschauende Arbeiten. Bezogen auf enges körperliches Zusammenarbeiten kann dies das Beiseite-Räumen von Hindernissen, das griffbereite Vorbereiten von wichtigem Werkzeug oder Hilfsmitteln usw. bedeuten, das meist vor dem eigentlichen Akt des engen körperlichen Zusammenarbeitens stattfindet. Auch das hat oft mit der Sicherheit, mit dem Limit an Kräften oder der Bewältigung entscheidender Momente zu tun.
Es entwickelte sich ein vorausschauendes Mitdenken für den Anderen, etwa beim Tragen eines Baumstammes, um in eine geschmeidige Bewegung zu kommen. Es war notwendig, bei Wegehindernissen, die einen selbst noch nicht betreffen (der Baumstamm ist lang), auf die andere Person zu achten, deren Bedürfnisse zu erkennen, etwa die Geschwindigkeit zu verringern oder stehenzubleiben.
Ähnliches war bei der Menschenkette zu beobachten, die schwere Steine aus dem Bach klaubte und bis zum befestigten Weg weiterreichte. Die Steine waren unterschiedlicher Schwere, Größe und Form und die Personen waren ebenso unterschiedlicher Größe, Stärke und Geschicklichkeit. So war jede Übergabe eines Steines an den Andern und jedes Übernehmen eines Steines von dem Anderen unterschiedlich. Man musste beim Übergeben sehr genau darauf achten, dass die andere Person den Stein richtig zu fassen bekommt.
Teils waren die Steine so schwer, dass sich eine kräftige Person entschied, aus der Reihe auszubrechen und den gefassten Stein selbst hinaufzutragen, weil das Weitergeben zu unsicher war. Dabei schloss sich die Kette ausgleichend und es wurde unbehindert weitergearbeitet, bis die ausscherende Person wieder in ihre Position zurückkehrte. Die Menschenkette bildete also nicht ein starres automatisches System, sondern ein mitdenkend ausgleichendes System, das besondere Anforderungen nahezu ohne mündliche Abstimmung einfach ausglich.
Es kam mehr als einmal vor, dass großes Vertrauen bei Arbeiten wie etwa das Einschlagen von Pfosten gefragt war, wo eine Person halten musste und die andere Person mit schwerem Hammer auf den Pfostenkopf schlug. Selbst wenn das Halten weit unten angesetzt wurde und man mit dem Körper aus der Schwungrichtung ging, bedurfte es doch eines tiefen Vertrauens der Haltenden und große Vorsicht der Schlagenden.
Zudem stellte sich streckenweise ein unangenehmer Dauerregen ein, dem wir trotz provisorischen Behelfen wie Zeltplanen spürbar ausgesetzt waren. Das „dem Wetter trotzen“ ist kein unwichtiger Aspekt. Es ist auch motivierend und macht stolz, dass man trotz schwierigem Wetter durchgehalten und etwas geschafft und nicht aufgegeben hat.
Dass die gemeinsame Arbeit „das Eis“ bricht, wurde auch angesprochen. Ebenso die Tatsache, dass die Gespräche von einfachen Gegebenheiten ausgehen konnten, die gerade passierten. Das vielfach angedeutete „Ungezwungene“ liegt also offensichtlich im „reden können, aber nicht müssen“.
Ein besonders wichtiger Moment schien der Abschluss der Arbeit gewesen zu sein, bzw. beim Abschluss die Rückschau, wie der Ort vor Beginn der Arbeiten ausgeschaut hat. Das weist in zwei Richtungen. Einerseits scheint das Zelebrieren des Abschlusses, also das gemeinsame Begehen und Anschauen der Arbeitsstätte mit den fertigen Werken und deren Würdigung wichtig. Ein weiterer besonderer Akt der Würdigung stellte sich mit einer Ansprache zur „Gleichenfeier“ durch Alin Olarescu ein.
Im Nachhinein wurde noch klarer: Das Besondere der gemeinschaftlichen Arbeit ist, dass sie zugänglich, sinnstiftend und befriedigend auch für Leute sein kann, die komplexe oder anstrengende handwerkliche Arbeit nicht schaffen oder sich nicht zutrauen. Es bildete sich eine Schnittstelle der Zugänglichkeit, die allen die Möglichkeit bot, am Gesamterfolg teilzunehmen. Und natürlich ist da auch die Essenszubereitung oder die abschließende Feier mitzurechnen. Diejenigen, die für das Besorgen der Lebensmittel, die Zubereitung des Essens, das Anrichten der Tische, das Wegräumen und Abwaschen etc. sorgten, nahmen auf ihre Weise auch ganz wichtigen Anteil am Ganzen. Es entstand ein Verzahnungsraum für “Mittun”, "Beitragen und “Dabeisein”.
Der tragende Geist. Die Ergebnisse und Beobachtungen des vorliegenden Projektes bestärkten uns, dass es bei diesem Zusammenarbeiten eben gerade nicht um das schnelle effiziente Umsetzen geplanter Vorhaben geht, sondern dass es darauf ankommen kann, welche Arbeitsprozesse wie durchgeführt werden, um das Zusammenkommen, sich Kennenlernen, die Identifikation mit dem Ort und den gebauten Objekten besonders intensiv wirken zu lassen, was zugleich verbindet und die gemeinschaftliche Identität stärkt. Der Wert der Arbeitsprozesse wird also nicht allein an der Effizienz gemessen, sondern am Reichtum gemeinschaftlicher Erfahrungen, Erlebnisse, gemeinschaftlichen Austauschs und Erinnerung – letztlich an der gemeinschaftsbildenden Kraft und am individuellen Anteil daran.
Du interessierst dich für die Details bzw. weitere Facetten der Arbeit und Überlegungen?
Hier findest du den 89 Seiten starken Abschlussbericht zur einwöchigen Formenwerkstatt in Passeier:
Die praktischen und theoretischen Erkenntnisse fließen in die Arbeit “Gärten und Höfe”, die Teil des Forschungsprojektes Surplus* – Dorf und Landstadt unter der Leitung von Hansjörg Alber Msc. und Thomas Gronegger Univ.-Doz. Dr. ist.
Surplus* – Dorf und Landstadt ist ein vierjähriges Forschungsprojekt, gefördert durch die Landesregierung Niederösterreich und die New Design University St. Pölten. Träger ist das ORTE Architekturnetzwerk Niederösterreich.
Die Beteiligten:
Student*innen der New Design University St. Pölten und der Transilvanian University Brasov
Fabian Herda, Carina Sponseiler, Christoph Pölzl, Janko Petrovic, Marija Milosavljevic, Ruben Bargetze, Dorothea Vohla, Florian Zirlik, Lorenz Dullinger, Laurenz Gensthaler, Adrian Ghintuiala, Teodora Panait, Brigitta Timar
Forscher
Hansjörg Alber Msc., Universität für Weiterbildung, Krems
Alin Olarescu Prof. Dr., Transilvania University of Brasov, Faculy of Wood Engeneering
Thomas Gronegger Univ.-Doz. Dr., New Design University, St. Pölten
Handwerker
Gerhard Kofler, Maurer und Handwerker aus Riffian
Friedrich Lanthaler, Schindelmacher aus Rabenstein in Moos in Passeier
Permakulturgärtnerin
Christine Alber, Bewirtschafterin eines Permakulturgartens in St. Martin in Passeier
Projektpartner
MuseumPasseier
Vergangenes Glück
Mein Opa und seine erste Frau.
Vor über 70 Jahren ereignete sich in St. Leonhard in Passeier ein tragisches Verkehrsunglück, in Folge dessen die junge Maria Karlegger ums Leben kam. Fotograf: Kofler, Bruneck. Alle Fotos aus dem Besitz der Familie Egger-Karlegger.
Mein Opa und seine erste Frau.
Von Tobias Egger-Karlegger
Wenn dieses Bild in Deine Hände weilt, sols Dich an vergangenes Glück erinnern. So schrieb Maria – oder Moidl, wie sie auch genannt wurde – auf die Rückseite eines Fotos, als Andenken für ihren geliebten Oswald, ihren späteren Ehemann.
Andenken aus dem Jahr 1951. Fotograf: Fotoatelier Ratschiller, Meran.
Es ist die tragische Geschichte der jungen Maria Karlegger. Ihr Leben war so traumhaft und unbeschwert, jedoch mit nur 25 Jahren endete es viel zu früh. Die Erzählungen meines inzwischen 94-jährigen Großvaters Oswald über seine einst geliebte Ehefrau faszinierten mich stets. Heuer, am 20. Juli 2023, jährt sich das Unglück zum 71. Mal. Anhand der Zeitungsberichte der damaligen Zeit, die nun nach der 70-jährigen Verjährungsfrist digital zugänglich sind, kann ich heute das Geschehen am Unglückstag nachvollziehen und die Erzählungen meines Großvaters belegen. Am Sonntag, den 20. Juli, gegen 8 Uhr früh, ereignete sich auf der Passeirer Staatsstraße bei Kilometer 19.631 ein schweres Verkehrsunglück…, so schrieb die Tageszeitung Dolomiten am 22. Juli 1952. Und genau am Tag dieser Berichterstattung verstarb Maria Karlegger.
Maria ist am 11. Dezember 1927 auf dem Brantleithof in St. Leonhard in Passeier geboren. Sie war die Tochter des Martin Karlegger – Stierschneidersohn aus Stuls und Metzgereibesitzer beim Frickhof in St. Leonhard – und der Theresia Pichler – Tochter des Bauerndoktors Alois Pichler auf Brantleit, besser bekannt als Michile Luis. Maria und ihre Eltern lebten zunächst als Pächter auf Brantleit, bis schließlich im Jahre 1936 Marias Vater den Hof seinem Schwiegervater zu guten Konditionen abkaufte. Zugleich verkaufte er die Metzgerei beim Frick, welche er zusammen mit seinem Bruder Luis besaß.
Maria als Kind im Jahr 1931. Fotograf: Fotoatelier Ratschiller, Meran.
Die Brantleitner-Familie im Jahr 1948: Theresia Pichler (27.10.1900–06.02.1974), Martin Karlegger (18.11.1899–07.02.1983) und Maria Karlegger (11.12.1927–22.07.1952). Fotograf*in unbekannt.
Die Moidl war sehr begehrt und für die damalige Zeit äußerst modern. Als einziges Kind am Hof, und somit Alleinerbin, rannten ihr die Verehrer nur so nach. Laut Erzählungen kam es sogar vor, dass die Idee zum Fensterln mehreren Burschen gleichzeitig in den Sinn kam und so eine Rauferei entstand, die glimpflich endete. Auch erregte Maria gerne viel Aufsehen, da sie immer schöne Kleider trug und sogar beim Kirchgang in weißen Schuhen zu sehen war, was zur damaligen Zeit nicht üblich war.
Sie wickelte ihren Vater Martl halt stets um den Finger. Und so erhielt sie von ihm immer Geld, um sich etwas Neues zu kaufen. Die Mutter meines Großvaters war an den Rollstuhl gefesselt und so rief sie ihn eines Tages zu sich, um ihm zu raten, er solle nicht mehr zu Moidl gehen: Di Moidl passt nit zi dir, si isch fiil zi modern fi dir. Darauf erwiderte mein Großvater: Ober sëll gfållt miër!
Moidl mit weißen Schuhen im Jahr 1947. Fotograf: Foto Saturina, Meran.
Erinnerung ist die schönste Gabe, die uns begleitet bis zum Grabe, schrieb Moidl auf eines ihrer Fotos. Ende der 40er Jahre lernte sie den um zwei Jahre jüngeren Scheibersohn, Ranggler und Schuhplattler Oswald Egger kennen. Sie begegneten sich das erste Mal im Sommer bei der Heumahd beim Wasserholen im sogenannten Sandwald oberhalb vom Sandhof.
Ausflug nach Bruneck im Sommer 1952 zu einer Freundin von Moidl, beim Jaufenhaus machten sie noch Fotos. Fotograf: Kofler, Bruneck.
Eine schöne, aber leider nur kurze Zeit verbrachten Moidl und Oswald zusammen. Schließlich heirateten sie am 10. Januar 1952 in St. Martin und feierten gemeinsam beim Scheiberhof. Zur frohen Feier am Heimathof des Bräutigams stellte sich auch die Streichmusik ein, deren Mitglied der Bräutigam ist, und der 82jährige Michele Luis führte zur Hochzeit seines Enkelkindes voll jugendlicher Freude den Geigenbogen, so schrieb die Dolomiten dazu.
Mein Großvater erzählte immer, dass es eine schöne Hochzeit gewesen ist. Über 40 Leute, der Chor und eine Stubenmusik, bei der er Mitglied war, waren gekommen. Am Ende der Hochzeit dankte der alte Dorfbauer Hans Schwarz dem Brautvater Martin für die schöne Feier. Dieser erwiderte, er habe nichts bezahlt. Kuëne Liire håt er gizoolt, so mein Opa.
Hochzeitsreise und Wallfahrten nach Hall in Tirol, gemeinsam mit den Brauteltern. Fotograf: J. Vedovelli, St. Leonhard in Passeier.
Zwei verschiedene Hochzeitsfotos, in weiß und traditionell, wurden im Fotoatelier in Meran gemacht. Fotograf: Fotoatelier Ratschiller, Meran.
Das große Unglück passierte knappe sechs Monate nach der Hochzeit. Der Schicksalstag im Juli desselben Jahres war ein gewöhnlicher Sonntag. Nach dem Kirchgang war es üblich, dass man nicht wie heute über den Pichl geht, sondern hinunter zur Hauptstraße, um von dort über Rennwies zum Brantleithof zu gelangen.
Moidl auf der Hochzeitsreise, in Innsbruck angekommen. Es ist das letzte Foto von ihr. Fotograf: J. Vedovelli, St. Leonhard in Passeier.
An diesem 20. Juli um 7.35 Uhr morgens fuhr die Kolonne der Alpini Gebirgsartilleriegruppe „Susa“ vom Jaufenpass in Richtung Meran. Laut Zeitungsbericht kam der 22-jährige Soldat Tullio Tongi mit seinem Militärlastwagen beim “Brüh-Grübl” von der Straße ab, genau an der Stelle, an der eine Gruppe Kirchgänger*innen unterwegs war. Dabei hat er die schwangere Moidl und ihre Mutter Theresia überrollt. Oswald, der gerade beim Bewässern der Wiesen war, wurde von der Ganderbäuerin vom Nachbarhof alarmiert. Die beiden schwer verletzten Frauen brachte man nach Obermais in die Klinik Dr. Kneringer. Die Mutter erlitt einen Beckenbruch, kam aber mit dem Leben davon. Anders Maria. Sie war nur schwach bei Bewusstsein und hat ihren Ehemann nicht mehr erkannt.
Da ihr Zustand hoffnungslos schien, wurde sie, um in der Heimat sterben zu können, nach St. Leonhard gebracht, so die offizielle Version der Tageszeitung Dolomiten drei Tage nach dem Unglück. Laut den Aussagen meines Opas verstarb Maria jedoch bereits im Krankenhaus an schweren inneren Verletzungen. Um Kosten für Leichentransport und Kirchenabgaben zu vermeiden, konnte die leblose Moidl noch mit einem Krankentransport bis zum Klotz beim Sandwirt gebracht werden. Oswald trug seine Frau gemeinsam mit seinem Bruder Sepp (Schaiber Sepp) und dem Knecht Anton Pixner (Stuëner Toonig) über das Feld bis zum Brantleithof. Auch das ungeborene Kind hat das Unglück nicht überlebt.
Fotos von der Beerdigung von Maria Karlegger am 24. Juli 1952 um 6.30 Uhr bei der Theiskapelle in St. Leonhard. Auch eine Abordnung der Alpini war anwesend. Fotograf: J. Vedovelli, St. Leonhard in Passeier.
Schwere Zeiten standen Oswald bevor. Er war nun mit gerade einmal 23 Jahren Witwer. Der Gerichtsprozess rund um das Verkehrsunglück dauerte fünf lange Jahre. Inzwischen gingen im Dorf Gerüchte um die Nachfolge des Brantleithofes um: Mit den Schaiber wermr schun foorn af Pråntlait, so machte sich der Neid bei den Burschen im Dorf bemerkbar, wie Oswald heute noch erzählt. Einmal musste er sich sogar mit einem Stock gegen einige Männern wehren, die ihm auf dem Nachhauseweg auflauerten. Im Jahr 1954 entschloss sich der Brantleitbauer Martin schließlich, Oswald als Adoptivsohn aufzunehmen, damit er einmal dessen Nachfolge antreten konnte. Dadurch erhielt Oswald den Doppelnamen Egger-Karlegger, den seine Familie bis heute trägt.
1956 heiratete Oswald meine Oma Karolina Hofer. Von den Adoptiveltern wurde die neue Ehefrau nicht gerade herzlich empfangen, weshalb sie für einige Jahre in eine Mietwohnung beim Kolberhäusl und später in eine Wohnung beim Faunerhof einzogen. Lotterin [Bettlerin] kimp af Pråntlait kuëne, so sagte einst der Adoptivvater Martin über meine Oma, worauf mein Opa erwiderte: Når gea i hålt! Natürlich wollte Martl meinen Opa nicht gehen lassen, denn er hatte sonst niemanden, der ihm auf dem Hof half.
Oswald im Jahre 1959 vor dem Brantleithof. 1982 konnte er den Hof übernehmen, auf dem er bis heute lebt. Fotograf*in: unbekannt.
Schließlich errichtete Oswald ein Eigenheim für die inzwischen fünfköpfige Familie. Mit dem Schmerzensgeld aus dem Gerichtsprozess und etwas Erspartem kaufte er 1962 ein Grundstück vom Nachbar ab, denn der Adoptivvater Martin überließ ihm keinen Baugrund. 20 Jahre später konnte Oswald den Brantleithof endgültig mit Schenkungsvertrag und einigen Auflagen übernehmen. Martin Karlegger verstarb am 7. Februar 1983 im Alter von 84 Jahren, die Adoptivmutter Theresia war bereits 1974 gestorben. Im Jahr 2004 starb auch die zweite Ehefrau Karolina Hofer nach dreijährigem Wachkoma in Folge eines Asthmaanfalls.
Bis heute lebt Oswald Egger-Karlegger in seinem Haus neben dem Brantleithof. Und erzählt gerne über das vergangene Glück und Unglück mit seiner ersten Frau Maria, von der ihm die Hälfte seines Nachnamens, einige Fotos und die Erinnerungen geblieben sind.
UPDATE 11.10.2023:
Ein interessantes Detail: Moidl und ihre Mutter wollten nach dem Kirchgang noch beim Dürrerhof vorbeischauen, denn zwei Tage vorher, am 18. Juli 1952, ist dort der Sohn von Moidls Freundin Maria Gufler geboren. So erzählte es die Tochter einer weiteren Freundin, Barbara Gögele (geb. 1922).
UPDATE 11.07.2025:
Oswald Egger-Karlegger ist im Alter von 96 Jahren verstorben. >> Todesanzeige
Pflanzenwissen zum Mitwachsen
Drei Frauen erzählen über ihre Gärten.
Fotos: MuseumPasseier.
Drei Frauen erzählen über ihre Gärten.
Von MuseumPasseier
Katharina, Isabella und Filomena. Das Museum hat drei Passeirerinnen in ihren Gärten getroffen und mit ihnen über Gemüse, Getreide, Gewürze und Blumen gesprochen. Über ihre Samen und Pflanzen, die sie stolz in zweiter oder dritter Generation vermehren. Über Sämlinge und Ableger, die sie ergattert oder mit Freude verschenkt haben. Aber auch über Fischköpfe, Vierklee und Kapuzinerpater. Bunt gemischte Pflanzengespräche eben, von “sell håts ålbm khoaßn” bis “hoobmse ët gsågg”.
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Ich bin die Leitner Kathi, komme von Ratschings und bin 1950 geboren. Und dann bin ich Passeier hergekommen und die Männer sind immer zum Holz(arbeiten) gegangen und dann habe ich gemusst mitgehen als Holzhäuserin, dann hat es zuerst für den Garten nicht viel abgegeben. Und dann, wenn die Kinder zur Schule gegangen sind, sind wir nicht mehr mit zum Holz und dann habe ich hier mit einem kleinen Gartele angefangen und der wurde dann immer etwas größer.
Am Anfang bin manchmal zu Gartenschauen gegangen. Da hat mich das interessiert. Und dann habe ich mir schon auch Bücher gekauft, davon habe ich ein paar. Und dann habe ich viel selber ausprobiert. Weil alles, wie es in den Büchern steht, muss nicht immer genau stimmen, ist nicht immer genau. Man muss das selber probieren.
Mich freut es einfach: Schon mal der Kontakt mit der Erde und die frische Luft, man sieht, wenn man es säht, wie es wächst, wie es keimt, und dann kann man es alles miterleben, bis die Früchte sind zum Ernten. Das ist nicht selbstverständlich. Da wächst man eigentlich damit mit.
Und dann wird halt über den Garten geredet, wie tust du da und wie täte man dort, wie tun sie und wie tu ich? Dann sag ich halt meine Gartengeheimnisse hinaus und sie sagen ihre. Manchmal ist es eine etwas lange Unterhaltung, dafür ist dann halt im Garten weniger. So ein Gartenstelldichein ist unten fast manchmal. Und dann tausche ich mich mit meinen Schwestern aus und ich habe eine Mords Freude, wenn wir uns die Bilder hin- und herschicken.
Und auch wenn Läuse sind, was man tun könnte oder sonst Ungeziefer. Und Ameisen sind auch im Garten, da kann man sich auch selber helfen. Muss man einen toten Fisch, einen Fischkopf, einwühlen, wo sie sind, dann gehen die Ameisen. Und gegen die Wühlmäuse tu ich die Kaiserkrone pflanzen. Ja, abwehren kann man alles, wenn man fleißig ist. Oder sonst mit Brennnesselwasser kann man ganz viel tun. Und düngen tu ich auch alles nur zuerst mit Mist, und später halt mit Brennnesseljauche.
Wo ich das Frühbett mach, ganz unten, tu ich noch zwei, drei Zeilen Frühkohl hinein und Blumenkohl. Manchmal gehen sie alle auf, und manchmal gehen nicht alle auf. Die verschenk ich dann, weil da gehen immer Nachbarn vorbei und ich schrei, „Mögt ihr ein Pflänzchen?“ oder sie fragen „Hast du eines übriges?“. Ja, ja, und dann kriegen sie ein Pflänzchen, das ich nicht brauch. So wie Salat, den tu ich auch selbst säen, dann habe ich immer herum zu pflanzen.
Die Tomaten, die hab ich am Längsten. Und die Stangenbohnen auch. Die habe ich noch von meiner Schwiegermutter, der Untereggerin, und die hat sie noch von ihrer Mama. Sie sagt, die sind immer am Hof gewesen und sie hat sie weitergepflanzt.
Garten, Garten, das ist einfach mein Hobby. Wenn ich spazieren gehe, ich schaue in jeden Garten hinein. Einige werden sich schon gedenken, was wundert denn die mein Garten, aber das ist mir doch egal! Schauen darf man ja!
Und wenn grad eine Pflanze ist oder etwas was ich noch nicht hab, und es hängt so schön der Samen runter, dann komme ich schon manches Mal in Versuchung, und tu es manchmal, dass ich mir so einen Sämling mitreiße. Ja, es heißt immer, wenn man es stehlt, dann wächst es leichter.
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Ich bin die Gufler Isabella und wohne auf dem Grollhof auf Matatz (in St. Martin in Passeier).
Was sie hier gehabt haben, war immer: Zwiebel, einen Schnittlauch, die Karotten, die Rote Beete, die Bohnen, die langen, weil die haben sie immer in die Bohnensuppe oder halt Kastaniensuppe hinein gegeben, und dann Runkelrüben und Kohl und Kartoffeln. Und so das normal, aber das außergewöhnliche Zeug haben wir alle keines gesehen.
Und wenn man an einen fremden Ort gekommen ist, wo wir gearbeitet haben, weiß ich noch, in Latsch oben, sind wir bei der Hebamme gewesen, da bei der „Felsenegger Liese“, jetzt hat sie uns hinüber gehen gemacht, einen Spinat zu holen. Wir nie gehört, Spinat! Nie gewusst, was das ist. Dann haben wir Angst gehabt, hoffentlich bringen wir ihr nicht das falsche Zeug vom Garten her. Gut, Gurken haben wir auch schon gehabt daheim unten, aber irgendwann dann, wie Auberginen und Kürbis, dieses Zeug hat es hier herinnen alles nicht gegeben, ist alles erst irgendwann hergekommen.
Und die Mama hat auch so eine Freude gehabt mit den Blumen, sie hat Dahlien hineingetan, dann hat sie die Bauernhortensien gehabt, Kamillen, Ringelblumen, die haben sie die Totenblumen geheißen, weil sie haben so lange geblüht und früher haben die Leute sich nicht in den Gärtnereien Blumen kaufen können, auf Allerheiligen auf die Gräber zu geben.
Meine Mutter hat erzählt – sie ist beim Graber auf dem Flonerberg aufgewachen – sie sind, wenn sie gewusst haben, dass irgendwo ein Balkon voller schöner Nelken ist, dann sind sie zu Fuß von Flonerberg zu oberst Prantach hinauf, um solche Setzlinge. Und haben die verschiedenen Farben herunter, damit sie daheim halt auch einen Austausch gehabt haben. So haben sie sich einander halt ein wenig ausgeholfen und eine Freude gemacht.
Und diese gutschmeckenden Nelken, die kriegst du auch nicht mehr alle, mal bei uns hier nicht, die roten noch, die sieht man, ich hab auch noch einen großen Stock drüben, so einen Herunterhängenden, aber gelbe, braune, scheckige, die siehst du nicht mehr. Da haben sie erzählt, da haben sie in Pfelders drinnen, wenn die Männer mit den Sensen hineingegangen sind, sie von den Balkonen heruntergemäht und auf dem Hut aufgesteckt.
Dann an Gewürzen haben sie Weinkraut, das ist immer aufgegangen, Petersilie, Sellerie haben sie gehabt, Schnittlauch… Und dazu hat es geheißen, wenn der (Schnittlauch)Stock richtig schön ist und gut getan hat, da ist eine zornige Bäuerin.
Die Samen, was ich hier hab, die sammle ich selber alle zusammen. Ich verschenke auch ganz viel, ich tu gerne jemandem eine Freude machen. Und ich habe im Garten jetzt erst die Zwiebeln drinnen, die habe ich am Karfreitag hinein getan. Ich lasse mir Zeit, ich mache alles erst im Mai. Und es wächst da geschwinder, man sieht es da vorwärts wachsen. Vor lauter Freude, wenn die ersten warmen Sonnenstahlen kommen, und du willst schon setzen und säen, aber das zeigt es dir schon, dass der Boden zu kalt ist, dass du musst den Boden mal erst warm werden lassen. „Pflanzt du mich im Mai, komm ich gleich“, hat es immer geheißen, „pflanzt du mich im April, komm ich, wenn ich will“. Nur nicht gleich aufgeben, wenn mal etwas nicht geht. Und auch wenn es dich mal narrt, es geht das nächste Mal schon besser. Immer geht es halt nicht geradeaus!
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Prugger Filomena, so schreibt man es halt, und sonst sagt man Mena. Geboren 1941.
Auf Platt drüben schon, da haben sie daheim ein kleines Kichlein, da hab ich damals schon immer müssen Vergissmeinnicht klauben oder sonst schöne Blumen und das hab ich halt auch gern getan. Das weiß ich nicht, ist das schon der Anlass gewesen?
Und als ich 10 Jahre alt gewesen bin, im Frühling hab ich die Masern gehabt. Und als ich aufstehen durfte, habe ich am ersten Tag schon zehn Vierklee gefunden! „Heuer werde ich sie zählen!“, und dann habe ich 302 Vierklee gefunden und 55 Fünfklee, sechs Sechsklee und einen Siebenklee auch noch: In einem Jahr! Und mir kommt vor, früher sind mehr Vierklee gewesen, heute musst du schon gut schauen!
Als ich dann Auf-der-Eggen hinauf bin, als ich geheiratet habe – ich bin zuerst vier Jahre lang Magd in Stuls gewesen – die Blümchen haben mir da auch gefallen, aber ich habe keinen Steckling und nichts gehabt, und oben dann hat sich das halt so ergeben.Ich bin beispielsweise mal mit einer Freundin nach Österreich zur Wallfahrt irgendwo hinauf, Maria Brettfall (Zillertal) heißt es, und als wir danach halt dort ins Gasthaus gegangen sind, habe ich da einen schönen Blumenstock gesehen und betrachtet. Und dann hab ich die Kellnerin gefragt, ob sie mir halt ein Steckling gäbe. Meine Freundin hat sich fast geärgert, „Wie kannst du nur, auf einem fremden Ort!“, ich hab gesagt, „das ist mir egal, wenn sie mir gerne eines gibt, freuts mich, und sonst bin ich nicht beleidigt“.
Und ich hab es immer noch, also nicht das gleiche, aber die Ableger. Und nach ein paar Jahren hat es sogar geblüht! Nein, da habe ich eine Freude gehabt, denn in Österreich draußen hat es nicht geblüht. Und dann pelze ich halt immer wieder mal ein Blättchen, und ich wär froh, wenn es mehrere machen würden, damit sie weiter bestehen könnten.
Aber es ist allgemein so gewesen: Um ein Büschlein, einen Steckling betteln, das hat man oft gemacht. Oder man ist zu den Kapuzinern hinaus (nach Meran), am 2. Freitag im Mai, da geht man mit dem Kreuz bis in die Spitalkirche, aber dabei sind sie auch zu den Kapuzinern hinaus, Pflanzen zu holen.
Ja, die Kapuziner haben viel gehabt, das ist wirklich sprichwörtlich gewesen: Bei den Kapuzinern Pflänzchen holen. Aber wenn die Kapuziner im Herbst gekommen sind, um Butter und Eier betteln, dann haben sie halt auch gemusst sich ein bisschen erkenntlich zeigen.
Die Interviews entstanden für den ersten Pflanzentauschmarkt im MuseumPasseier am Internationalen Museumstag, den 21. Mai 2023.
Interviews, Ton, Schnitt:
Christl Alber, Magdalena Haller, Judith Schwarz
Blick über den Schüsselrand
Das Essgeschirr im Museum.
Alle Fotos: MuseumPasseier.
Das Essgeschirr im Museum.
Von Rita Pöll
(Transkription vom Vortrag vom 1.4.2023)
Ich stamme aus einer großen Bergbauernfamilie in Ulfas, in der es normal war und noch immer ist, gemeinsam am Tisch aus einer großen Schüssel oder Pfanne zu essen. Für meine Masterarbeit an der Donau-Universität Krems habe ich mir genau dieses Thema ausgesucht: Zåmm essn. Über bäuerliche Tischgewohnheiten und Esskulturen im südlichen Tirol von 1800 bis 1950.
Am 1. April 2023 sprach ich im Museum darüber, was das Essen aus einer Schüssel oder Pfanne mit dem Miteinander-Essen und dem Aufessen zu tun haben. Dabei spannte ich den Bogen von den Muës-Schärrn (Krusten am Pfannenboden) bis zum Fondue und von der Rauchküche bis zum Sechserbesteck.
Im anschließenden praktischen Teil formten die Teilnehmer*innen eine eigene Schüssel aus Ton und ließen sich dabei von den ausgestellten historischen Suppenschüsseln und Krapfentellern im Museum inspirieren.
Im Vortrag beschrieb ich – u.a. anhand der Museumsobjekte aus Passeier – die Besonderheiten des Essgeschirrs:
Anfangs haben die Menschen aus Schüsseln getrunken, also ohne Besteck gegessen.
Der Löffelstiel war viel kürzer, die Laffe viel größer. Wenn man aus der Schüssel isst, ist der Weg von der Schüssel zum Mund viel länger und es ist schwieriger, dass man nicht lakklt (kleckert). Deswegen war auch die Handhaltung eine andere: Man hielt den Löffel in der Innenseite der geschlossenen Faust, damit die Hand den Löffel besser stabilisiert. Bei den meisten Bauernfamilien früherer Zeiten wurde der Löffel nicht abgewaschen: Er wurde abgeschleckt oder an der Schürze abgewischt.
Mit der Gabel ists ne Ehr, mit dem Löffel kriegt man mehr.
Jeder, der probiert, in der Gruppe aus einer einzigen Schüssel zu essen, weiß, dass das stimmt. Es hat eine genaue Reihenfolge gegeben, meist hat der Bauer oder Großknecht angefangen. Und wenn der Großknecht aufhörte, musste jeder aufhören mit dem Essen. Und je nachdem ob der Großknecht also ein großzügiger Mensch war, oder ein habgieriger, hat das auf die ganze Familie oder das ganze Umfeld eine Auswirkung gehabt.
Das Geschirr-Sortiment war beschränkt.
Es gab große und kleine Eisenpfannen, je nach Orte auch Holzteller und Löffel. Dann war schon bald fertig. Die Pfanne, in der die Speise zubereitet wurde, kam vom Feuer direkt in die Mitte des Tisches und es wurde daraus gegessen, Reste blieben in der Pfanne und wurden für die nächste Mahlzeit wieder aufgewärmt. Es fällt also wenig Geschirr zum Spülen an. Die wenigen Pfannen, die tagtäglich im Gebrauch waren, mussten immer wieder repariert werden. Der Pfannenflicker, das war ein eigener Beruf, der hat früher davon gut leben können.
Zur Muspfanne gehört auch der Pfannenknecht, aus Eisen oder Holz.
Man hat ihn unter die Pfanne gestellt, weil es wurde ja auf offenem Feuer gekocht und die Unterseiten der Pfannen waren rußig. Der Pfannenknecht war also der “Knecht”, der die Pfanne halten musste, weil es mitunter auch wild zugegangen ist, wenn jede*r ordentlich in die eine Pfanne gelangt hat. Ende des 19. Jahrhunderts verschwanden die ersten Rauchküchen, es kam der Sparherd und immer seltener waren Pfannen auf der Unterseite rußig.
Dann die Schüsseln aus Holz.
Es gibt mitunter Schüsseln, die 300 Jahre alt sind, teilweise noch gebrauchsfähig. Man hat sie immer wieder und wieder geflickt, mit Klammern zusammengehalten, mit einem Blechl repariert usw. oder “wiederverwertet”. Vielleicht, weil mehr Mühe und Energie in der Beschaffung und Herstellung der Materialien steckt, als bei einem maschinell hergestellten Produkt. Auch heute noch werden in Passeier alte Pfannen oder Blechschüsseln für die Fütterung der Tiere verwendet.
In die Mitte des Tischs kamen Schüsseln…
Außen blieben die Schüsseln – bis auf wenige Ausnahmen – unbehandelt, innen hat man sie glasiert und verziert. Für mich ist die Schüssel das Symbol dafür, miteinander aus einem Geschirr zu essen. Zåmm essen bezieht sich dabei nicht nur auf die eine Schüssel, die man sich zusammen teilt, sondern auch auf Werte, wie das vollständige Aufessen von einem Gericht. Wurde nicht aufgegessen, hat man die Reste aufgewärmt, zu einem anderen Gericht verarbeitet oder den Tieren verfüttert.
… oder Krapfenteller.
Viele denken, es hat nur die Pfanne oder die Schüssel gegeben, die in der Mitte des Tisches stand. Es gab aber auch den großen, flachen Krapfenteller für Süßspeisen. Nicht nur der Umgang mit den Nahrungsmitteln, sondern auch der Umgang mit dem handwerklich angefertigten und bemalten Geschirr war sehr sorgfältig und nachhaltig. Im Laufe der Zeit wurde diese Irdenware durch unkompliziertes, robustes und seriell angefertigtes Material ersetzt.
Die Emaille- und Blechschüsseln sind im späten 18. bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts aufgekommen.
Sie waren halt robust, leichter an Gewicht und praktischer in der Handhabung, beispielweise einfacher zum Stapeln. So wurden die Holz- und Tonschüsseln langsam durch Blech- und Emaille-Schüsseln ersetzt. Heute sieht man, dass die klassischen weißen Emaille-Schüsseln mit blauem Rand in der Gastronomie als “extravagantes” Geschirr wieder aufkommen, weil man etwas Besonderes haben will.
Auch die Brot-Gråmml gehörte zum Essgeschirr.
Die Gråmml haben die Bauern meist selbst getischlert. In dem offenen Holzkasten mit eingehängtem Messer hat man die getrockneten, (stein)harten Roggenbrote zerkleinert. Anschließend wurden die Brotbrocken einfach mitsamt der Gråmml auf den Tisch gestellt und es wurde daraus gegessen.
Ein interessantes Beispiel aus Passeier.
Man hat nicht nur daheim im familiären Kreis aus einer Schüssel gegessen. Diese Kiste mit 158 Löffeln stammt vom Geadilehouf in Stuls und war für alle, die nach einer Begräbnis zum Totenmahl kamen. Die Blechlöffel sind Fabrikware, aber viele haben zur Kennzeichnung Verbiegungen oder Einritzungen erhalten.
Wer findet Emmy?
Eine Frauenverein-Obmännin im frühen 20. Jahrhundert.
Da von der Schriftstellerin und Fotografin Emmy Ludolph bislang Abbildungen fehlen, muss ein Symbolbild herhalten. Es zeigt eine Illustration der Arbeiter-Zeitung vom 20.03.1911 zum ersten Frauentag am 8. März 1911, der in Österreich mit Massenkundgebungen abgehalten wurde. Abbildung: ÖNB
Eine Frauenverein-Obmännin am Anfang des 20. Jahrhunderts.
Von Judith Schwarz
Emmy hat uns am 26. November 2022 gefunden. Es war ein Samstagnachmittag und ein paar Leutchen hatten sich zum Workshop “Gemeinsam in alten Fotos lesen" getroffen. Von den Postkarten, die die Teilnehmer*innen mitgebracht hatten, fielen viele auf und gingen wieder unter. Dann: Eine Ansichtskarte von St. Leonhard, 1914 verschickt an eine Madame Louise Lahodny in Paris. Eine Madame in Paris... das schien interessant! Aber da sich bei der Eingabe des Namens auf Google nichts rührte, verflog diese meine erste Spannung ziemlich bald.
Trotzdem blieb die Postkarte etwas länger in meinen Händen. Warum genau diese, und nicht eine andere, ist schwer zu erklären. Vielleicht wegen der speziellen Kombination Paris und St. Leonhard. Vielleicht wegen des Rätsels im Kartentext: Wer war dieser verstorbene Spielgefährte Hansi, ein Familienmitglied oder ein Kanarienvogel? Ganz sicher aber reizte mich in keiner Weise der Personennamen, mit dem die Karte unterzeichnet war: Von einer oder einem gewissen E. Meyer Ludolph, wohnhaft in Meran.
Liebe Frau Lahodny! Es hat mich gefreut, zu hören, daß Ihnen das Bild von unseren Kleinen gefallen hat. Der Tod Ihres lieben Kleinen hatte uns alle tief bewegt. Denn wir hatten alle Ihren Hansi so besonders lieb. Mercedes spricht noch oft von ihrem kleinen Spielgefährten. Hoffentlich sehen wir Sie noch einmal in Meran wieder, ich würd mich freuen, wenn Sie mich einmal besuchen würden. Herzliche Grüße Ihnen u. Ihrer Schwester von Ihrer E. Meyer-Ludolph. Postkarte, gelaufen 1914. Foto: Manuel Thoma.
E. steht für Emmy. Und Emmy für Emilia. Das spuckte das online Zeitungsportal der Landesbibliothek Teßmann im Zusammenhang mit Meyer Ludolph aus. Und dazu noch diese kurze Notiz von Juni 1912: Die Beilage zum “Berliner Lokalanzeiger” zeigt die Vergrößerung der in S. Pötzelbergers Kunsthandlung ausgestellten Aufnahme der Frau Meyer-Ludolph von der Jaufenkapelle mit den Festgästen davor, während des kirchlichen Weiheaktes [der Straße]. Nicht schlecht, eine Frau hat bei der Eröffnung der Jaufenstraße fotografiert! Und ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass mich die Reaktionen der damals anwesenden Passeirer*innen mehr interessierten, als die beschriebene Fotografie von Emmy Ludolph.
Von Fragen zu Paris und Kanarienvögeln war ich nun zwar weit entfernt. Aber mein Interesse für diese Frau war geweckt. Ohne ein Indiz dafür zu haben, gehe ich davon aus, dass Emmy Ludolph nicht nur dieses eine Mal diese eine Fotografie gemacht hat. Da es für Südtirol keine Gesamtdarstellung von Fotografinnen gibt, fehlt auch das Wissen über fotografierende Frauen speziell vor dem Ersten Weltkrieg. Emmy Ludolph muss jedenfalls eine der wenigen gewesen sein, die es damals gegeben hat. Und eine der allerwenigen, die es geschafft haben, dass nicht nur ihre Fotografie, sondern auch ihr Name abgedruckt wird.
Wie sucht man diese Emmy, die Passeirer Motive nach Berlin und Paris sandte? Sie ist – typisch für die Zeit – weniger mit ihrem Nachnamen Ludolph, als unter dem Nachnamen und Titel ihres Ehemannes auffindbar: Als Frau Professor Meyer. Ihr Gatte Max Wilhelm Meyer (1853–1910) war Astronom und Schriftsteller, aber hauptsächlich war er der “Urania-Meyer”: Einer der drei Gründerväter der ersten Urania 1888 in Berlin. Es wird nicht viele geben, denen sein Name ganz fremd ist, schrieb einst das Berliner Tageblatt – ich gebe zu, sein Name war mir nicht geläufig. Auch nicht, dass Meyers Grab im Evangelischen Friedhof in Meran zu finden ist. Aber zu einer Zeit, als es unter Akademikern verpönt war, naturkundliches Wissen an die Gesellschaft weiterzugeben, war der “Popularisator der Wissenschaft” und ”Erfinder des wissenschaftlichen Theaters” wohl bekannt wie ein bunter Hund.
Wann die Hochzeit der beiden gewesen ist, müsste man noch rausfinden. Max Wilhelm Meyer hatte nämlich vor Emmy eine Wienerin geheiratet, eine bekannte Schönheit, deren Namen ebenfalls noch fehlt. Den Sommer 1901 verbrachte er – behufs Ausruhens seiner Nerven und Fertigstellung eines wissenschaftlichen Werkes – mit seiner Gemahlin in Meran. Ob die damalige Gemahlin nun die “Wiener Schönheit” war oder bereits unsere Emmy, wissen wir nicht.
Jedenfalls wurde das Ehepaar in Meran überfallen. Es sollen zwei Burschen gewesen sein, die sie auf dem Heimweg gegen Mitternacht mit Knüppeln auflauerten. Meyers Filzhut verhinderte angeblich eine gefährliche Kopfverletzung, berichtete die Dresdner Zeitung. Wenig später erschien in der Berliner Börsenzeitung die Meldung, dass Meyers Unternehmen in Konkurs gegangen sei. Meyer war, in Folge eines Streits, aus der Berliner Urania ausgestiegen und hatte seine eigene “Internationale Urania” gegründet. Möglich, dass angesichts dieser zwei Ereignisse das mit dem Ausruhen seiner Nerven nicht so ganz geklappt hat in Meran.
Später entdeckte ich noch zwei weitere Ehemänner bzw. Nachnamen von Emmy. Ja, richtig gelesen: Eine Frau, die dreimal verheiratet war, hatte im Laufe ihres Lebens vier verschiedene Namen, Varianten mit Doppelnamen nicht eingerechnet. Dementsprechend schwieriger ist es, eine Frau in den Quellen zu finden, als einen Mann, dessen Name sich im Normalfall nicht änderte.
Sie nannte sich Emmy Rogge, bevor sie den “Urania-Meyer” heiratete. Und Emmy Gurlitt, nachdem Professor Meyer 1910 in Meran verstorben war. Als sie das Foto am Jaufen aufnahm (1912) bzw. die Postkarte der Dorfansicht von St. Leonhard verschickte (1914) war ihr zweiter Ehemann Meyer also bereits verstorben. Und nur zu ihm fand ich bislang einen Hinweis auf fotografische Tätigkeiten: Seine Privatliebhaberei war die Fotografie, für die er eine große Meisterschaft als kunstverständiger Amateur entwickelte, schreibt die Meraner Zeitung in Meyers Nachruf. Es könnte also sein, dass die Witwe die Privatliebhaberei ihres Mannes samt dessen Fotoapparat übernommen hat – entweder freiwillig oder aus finanziellen Gründen.
Emmys Ehemann, Max Wilhelm Meyer, und ihre gemeinsame Tochter Mercedes, die 1906 auf Capri geboren ist. Gut möglich, dass Emmy Ludolph die Aufnahme gemacht hat. Foto: Eurhinosaurus https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=91583350.
Dann stieß ich endlich auf Emmys Geburts- und Sterbejahr: 1863 bis 1929. Als Emmy Gurlitt veröffentlichte sie drei Jahre vor ihrem Tod einen Aufsatz über ihren dritten Ehemann, den Reformpädagogen und Karl-May-Forscher Ludwig Gurlitt (1855–1931). Und die Karl-May-Gesellschaft ergänzte nachträglich dankenswerter ihre Lebensdaten. Ludwig Gurlitt war übrigens der Onkel jenes berühmt-berüchtigten Kunstsammlers, dessen versteckten Gemälde vor einigen Jahren auftauchten. Emmy verbrachte mit dem 23 Jahre älteren Ludwig Gurlitt ihre letzten Lebensjahre auf Capri, wo sie auch schon mit ihrem zweiten Ehemann zeitweise gelebt und 1906 ihre gemeinsame Tochter Mercedes Meyer zur Welt gebracht hatte. Doch woher Emmy eigentlich stammte, wer ihr erster Ehemann Rogge war und ob sie mit ihm Kinder hatte, dazu schweigen meine Quellen bislang.
Meran war also nur eine Zwischenstation. 1909 weilte Max Wilhelm Meyer (mit oder ohne Emmy) in Messina und dokumentierte gemeinsam mit Maxim Gorki die Folgen des verheerenden Erdbebens in Südkalabrien. Dann, im September 1910, schrieb die Bozner Zeitung, Meyer sei aus dem Meraner Krankenhaus entlassen und in die Villa Alpenheim, Majastraße 2 (heute 7), gezogen. Drei Monate später starb er, Emmy war 47, ihre Tochter Mercedes vier Jahre alt. Als alleinerziehende Witwe scheint Emmy dann bis in die ersten Kriegsjahre hinein im Postgebäude in Obermais gewohnt zu haben, im Adressbuch ist sie als Schriftstellerin eingetragen. Im Jänner 1916 soll sie bereits nach Deutschland gezogen sein, ihre dritte Heirat mit Ludwig Gurlitt muss schließlich nach 1917, dem Tod von dessen ersten Frau, stattgefunden haben. Capri, Meran und Deutschland – das alles klingt nach turbulentem Leben.
Aber das Beste ist noch nicht erzählt: Meran war nämlich doch mehr als eine Zwischenstation. Im März 1913 berichtete die Meraner Zeitung über eine öffentliche Frauenversammlung und die Gründung des Verein der Erwerbenden Frauen Meran, einer Zweigorganisation des gleichnamigen Hauptvereins in Wien. Und die frisch gebackene Präsidentin ist unsere Emmy Ludolph! Man stelle sich das vor: Wir haben eine Zeit, in der gemäß Eherecht die Frau den Nachnamen des Ehemannes anzunehmen, ihm als “Haupt der Familie” zu seinem Wohnsitz zu folgen und seine Maßregeln zu befolgen hat. Für bestimmte Frauenberufe wie Lehrerinnen galt ein Heiratsverbot, Frauen durften im Normalfall auch nicht wählen und laut Vereinsgesetz weder politischen Vereinen beitreten, geschweige denn sie gründen.
Emmy erfuhr als Obfrau wohl einigen Gegenwind. Ausdrücklich hatte sich der Verein als Bildungs- und Berufsverein von politischen Aktivitäten zu distanzieren, dementsprechend wurde auch die Anfrage eines “Sozialistenführers” beantwortet, nämlich dass der Kampf um die höchsten Rechte der Frau den Kolleginnen draußen im Reich und in Wien überlassen wird. Was man “draußen im Reich” bzw. die Deutsche Volkszeitung wiederum umgehend zum Anlass für spöttische Bemerkungen nahm: Es mag ja sein, dass die Mitglieder dieses Vereins es nicht so nötig haben, sich um soziale und politische Fragen zu kümmern, aber in den sozialdemokratischen Frauenorganisationen, wo wirklich [sic!] arbeitende Frauen und Mädchen sich zusammenfinden, denkt man über solche Fragen anders. Dass die Deutsche Volkszeitung – im selben Artikel – die erste gewählte Obfrau ohne Namen, sondern lediglich als Gattin des verstorbenen Doktor Mayer vorstellt, spricht dann wieder weniger für die “höchsten Rechte der Frau”.
Schließlich dann nochmal eine Randnotiz zu Passeier. Vier Monate nach der Vereinsgründung schrieb Emmy einen Leserbrief an die Meraner Zeitung – und signierte mit Emmy Meyer-Ludolph, Waldheim bei St. Leonhard. Gemeint ist das ehemalige Gasthaus Waldheim, etwas außerhalb von St. Leonhard bei Hinteregg, auf dem Weg nach Platt gelegen. Im Grunde musste Emmy mit Zuschriften als Reaktion auf den Leserbrief rechnen – wenn sie also Waldheim als Adresse angab, war sie wohl länger dort, vielleicht den ganzen Sommer über.
Gleich an eine Waldheim-Affäre zu denken, wäre eine glatte Unterstellung. Es war für die Vereinsobfrau Emmy wohl ein Sommerfrisch-Aufenthalt, verbunden mit Arbeit: Im Juli 1913 weilte sie im Gasthaus Waldheim und schrieb einen Leserbrief über die Frauenrechtlerinnen aus England. Ansichtskarte, gelaufen 1913, Foto: Manuel Thoma.
Emmy fand unterstützende Worte für die angefeindeten, aber tapfersten Frauenrechtlerinnen. Man hatte sie als Vereinsobfrau wohl um eine Stellungnahme zu den Suffragettes gebeten, jenen Frauen in England, die teilweise auch mit Hungerstreiks und Widerstand für das Frauenwahlrecht kämpften. Sie hätten gerne ein paar verurteilende Zeilen, schreibt sie gleich in ihrer Einleitung an die Redaktion gerichtet, diesem Wunsche kann ich nicht nachkommen, […] da ich […] deren Ausfälle mit anderen Augen anschaue. Ob sie im Gasthaus Waldheim mit anderen Gästen oder auch Passeirer*innen offen über ihre Meinung zum Frauenwahlrecht gesprochen hat, wäre zu schön zu wissen.
Zurück zum Verein. Der öffentliche Frauenabend im März 1913 schien ein Erfolg gewesen zu sein, man gewann prompt 52 Mitglieder, die jeweils einen jährlichen Mitgliedsbeitrag von 3 Kronen und 40 Heller beisteuerten. Wie sich der Verein weiters finanzierte, lässt sich aus der Presse nur bedingt herauslesen, es hat wohl auch Förderungen der Gemeinde Untermais gegeben. Bei der ersten Generalversammlung im Jänner 1914 werden dann die Gönner*innen (die Geld oder mal eben 230 Bücher für die Vereinsbibliothek spendierten) namentlich erwähnt.
Bald wurden die ersten kostenlosen Abendkurse angeboten: Französisch, Englisch, Italienisch, Stenographie, Kleider- und Weißnähen, Schreibmaschine ecc. Später kam auch ein Modistenkurs dazu (Modistinnen waren das Pendent der männlichen Hutmacher, sie fertigten Damenhüte und überarbeiteten Kleider nach der neuesten Mode). Angesprochen waren nicht nur berufstätige Frauen, sondern auch Mädchen ab 14 Jahren. Für junge Frauen – ausgenommen für “höhere Töchter” mit bezahltem Privatunterricht – gab es nach der Pflichtschule wohl nur sehr wenige erschwingliche Bildungsangebote in Meran.
Dann kam der Krieg. Während die Vorträge an den vierzehntägig abgehaltenen Vereinsabenden anfangs Titel trugen wie “Aus dem Leben einer arbeitenden Frau”, “Unser Körper und seine Pflege” oder “Wohnungsfürsorge”, gab es nun im Vereinslokal in der Gemeindeschule in Untermais Diskussionen über die Kriegslage und sogar Li Fischer-Eckert (1882–1942), eine Pionierin der Sozialarbeit und des Frauenrechts, sprach in einem Vereinsvortrag über “Die Frauen und der Krieg”.
Nun stand Kriegshilfe im Mittelpunkt der Vereinstätigkeit. Im Sommer 1914 – die Gründung war gerade mal ein gutes Jahr her – besorgte der Verein die Einrichtung und Leitung des Kindergartens in Untermais, der als Kriegs-Kinderfürsorgestelle bald aufblühte. Im Herbst 1914 führten die “arbeitenden Frauen” die Volksküche für den Kurbezirk Meran, lasen den Verwundeten in den Spitälern Briefe vor und halfen beim Briefeschreiben, organisierten Kleider- und Liebesgabensammlungen für Flüchtlinge und schufen eine Notnähschule im Kriege, eine Strick- und Nähschule für zirka 30 arbeitslose Frauen.
Der Verein hat also in jeder Hinsicht das den Frauen offene Feld bebaut, berichtete die Südtiroler Landeszeitung 1921. Wobei Emmy Ludolph zu diesem Zeitpunkt bereit aus Meran fortgezogen ist und diese Zeilen einen Rückblick darstellen: Unter der ersten Obmännin Frau E. Meyer entfaltete [der Verein] eine rege Tätigkeit [und gründete] in richtiger Einsicht von einem diesbezüglichen Mangel das alkoholfreie Speisehaus, das bei Rauchverbot vegetabilische Kost zu mäßigen Preisen vielen Gästen eine willkommene Stätte bot. Abgesehen vom Wort Obmännin klingt das alles sehr modern.
In Meran ist Emmy Ludolph heute eine Unbekannte. Doch auch im weltweiten Netz ist sie nicht wirklich aufspürbar. Obwohl es zu zwei ihrer Ehemänner lange Artikel auf Wikipedia gibt, hat sie dort nicht mal eine Nennung als namenlose Ehefrau. Was sich, wenn Wikipedia will, natürlich schnell ändern lässt. Kniffliger sind die Antworten auf Fragen wie: Wenn sie Schriftstellerin war, wo sind ihre Werke? Wo ihre Fotografien? Wie sah sie aus und was erinnert in Meran oder Passeier noch an sie?
Das Erinnern gehört zum weltweiten Frauentag. Klassischerweise haben, jährlich am 8. März, historische und aktuelle Frauenrechtlerinnen ins Licht gerückt zu werden. Und manchmal werden hierfür auch die Artikel vom Vorjahr – vollständig unverändert – wiederverwendet. So wie ich an dieser Stelle nochmal das Titelbild dieses Blogartikels abbilde, verbunden mit dem Aufruf:
Helft uns, Emmy zu finden!
Auf dass unter diesem Symbolbild irgendwann Fotos und Texte von Emmy Ludolph zu sehen sein werden.
Auf dass dieser Artikel nicht unverändert bleibt…
Illustration der Arbeiter-Zeitung zum 8. März 1911 in Wien, als Frauen für die Gleichberechtigung auf die Straßen gingen, um den ersten Frauentag in Österreich abzuhalten. Es ist nicht auszuschließen, dass Emmy dabei gewesen ist. Abbildung: ÖNB
UPDATES:
11.04.2023: Emmys veröffentlichtes Foto von der Eröffnung der Jaufenstraße haben wir gefunden! Allerdings ist sie nicht – wie im Blogartikel beschrieben – mit ihrem Namen als Fotografin genannt. Danke an Larissa Peters von der Staatsbibliothek Berlin bzw. Matthias Klemm von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, die uns die Artikel geschickt haben: "Nationale Sommerfahrten in Südtirol" von Alfred Geiser aus der „Daheim“, 48. Jahrgang, Heft Nr. 41, 1912 vom 13. Juli, Seite 4ff. (Bild links) bzw. die Beilage „Bilder vom Tage“ aus dem "Berliner Lokalanzeiger", Heft Nr. 315, 1912 vom 22. Juni (Bild rechts).
18.04.2023: Endlich ein Foto von Emmy! Giuseppe Aprea vom Centro Documentale dell’Isola di Capri hat uns Kopien der Zeitschrift “Il Gabbiano” geschickt, in denen Emmy Meyer erwähnt bzw. abgebildet ist.
Emmy mit Tochter Mercedes auf Capri, 1906. Aus: Il Gabbiano di Capri, Heft Nr. 52, Frühjahr/Sommer 2012, S. 12.
Aus den verschiedenen Artikeln der Zeitschrift geht hervor, dass Emmy bereits mit ihrem ersten Ehemann einen Sohn hatte, Georg Rogge, zirka um 1900 geboren. Mit Max Meyer, mit dem sie im November 1905 nach Capri gezogen ist, hatte Emmy neben Mercedes (geboren am 1. August 1906) noch eine weitere Tochter, Hildegard (geboren am 5. April 1909), die jedoch 1916 verstirbt. 1913, als sie den Meraner Frauenverein gründete, hatte sie also drei Kinder, der Tod von Hildegard ist in den Meraner Sterbebüchern nicht verzeichnet, sie war zu dem Zeitpunkt wohl schon von Meran fortgezogen. Mercedes wiederum hatte zwei Töchter, Ingeborg (geboren am 17. Februar 1925 auf Capri) und Barbara.
Emmy heiratete ihren dritten Ehemann Ludwig Gurlitt im September 1922, zog mit ihm im Februar 1924 wieder nach Capri, wo sie – ganz im Sinne ihres Meraner Frauenvereins – eine „Kulturschule für junge Mädchen“ errichteten und bis 1926 führten. In der Zeitschrift „Il Gabbiano“ ist nur von Ludwig Gurlitt als Gründer die Rede, was aufgrund seiner Vorgeschichte als Lehrer, Reformpädagoge und Herausgeber von Schulbüchern ja naheliegt. Tatsächlich wird auch Emmy ihrerseits als Gründerin des Meraner Frauenvereins einiges von ihren Erfahrungen und Ideen eingebracht haben. Laut Zeitschrift „Il Gabbiano“ stirbt Emmy 1929 in München, Ludwig Gurlitt 1931 in Freudenstadt.
21.04.2023: Lügt der Grabstein von Mercedes Meyer? Emmys Tochter Mercedes Meyer, verehlichte (später geschiedene) Gurlitt, ist laut Grabstein im Evangelischen Friedhof von Meran am 22. August 2007 mit 101 Jahren in Überlingen gestorben.
Warum sie, die ja Kinder hatte, in Meran beigesetzt worden ist, wissen wir nicht. Auch der Sterbeort Überlingen, der auf dem Meraner Grabstein angegeben ist, ist fraglich. Zumindest hat das Stadtarchiv Überlingen (Bodenseekreis, PLZ 88662) weder in den Sterbebüchern noch in den alten Ausgaben der Stadtzeitung einen Sterbeeintrag oder eine Sterbeanzeige gefunden. Auch von Überlingen am Ried in der Gemeinde Singen (Landkreis Konstanz, PLZ 78224) kam die Antwort, dass weder in den Kirchenbüchern, noch im Melderegister oder den Archivkarteien ein Sterbefall mit dem Namen Mercedes Meyer oder Gurlitt eingetragen sei. Eine weitere Ortschaft oder Gemeinde mit dem Namen Überlingen konnten wir nicht finden.
07.10.2023: Emmy ist auf Wikipedia!
Endlich haben wir mehr Material beisammen und einen Wikipedia-Artikel zu Emmy, sowie einen zum Verein der erwerbenden Frauen Meran verfasst. Zu unserer Freude sind sie gesichtet und für relevant befunden worden. Also eine weibliche Biografie mehr in der deutschsprachigen Wikipedia, deren Frauenanteil bislang erst bei 17% liegt. >>> Emmy auf Wikipedia
Eine Ausstellung treibt Blüten
Alte Meister in Passeier als Inspiration für die Meisterausbildung zur Floristin.
Florales Kunstwerk, das “Uffizi in Passeier” zum Thema hat.
Alte Meister in Passeier als Inspiration für die Meisterausbildung zur Floristin.
Text und Fotos: Sophia Egger
Am Anfang einer jeden Gestaltung steht die Idee. Die Idee hinter meiner Arbeit im Rahmen der Meisterausbildung zur Floristin an der Akademie für Naturgestaltung in Niederösterreich findet ihren Ursprung in den Uffizien in Florenz. Meine Aufgabe war es nämlich, zu den weltbekannten Kunstgalerien in der Toskana eine florale Gefäßfüllung zu gestalten. Zu einer Gefäßfüllung gehört zum einen das passende Gefäß und zum anderen, wie das Wort schon erahnen lässt, die entsprechende florale Füllung dazu.
Da das Thema Uffizien sehr breit gefächert ist, galt es, das Thema einzugrenzen. Beispielsweise auf einen bestimmten Künstler, auf ein bestimmtes Bild oder auch auf einen bestimmten Auftraggeber. Nach längerem Recherchieren und einigen Gesprächen war mir dann aber bald das eigentliche Thema meiner Gefäßfüllung klar. So stehen die Uffizien nämlich in enger Verbindung zu Südtirol. Zur Zeit des Zweiten Weltkrieges lagerten viele Bilder aus den Uffizien im Passeiertal, genauer gesagt in St. Leonhard, um sie vor den Bombardements in den Städten zu schützen. Zu diesem Thema gab es auch eine Sonderausstellung im MuseumPasseier, die den Titel „Uffizi in Passeier“ trug. Genau dieser Titel sollte nun Thema meiner praktischen Hausaufgabe werden.
Sophia Egger hat sich für ihre Themenarbeit “Uffizi in Passeier” viel Hintergrundwissen angeeignet und freut sich über den Blogartikel, denn so wird unser Beruf auch in einem anderen Kontext sichtbar, so wie wir es auch in unserer Ausbildung lernen, dass unser Beruf weit über das hinausgeht, was die meisten Menschen sich darunter vorstellen.
Es spielte sich nämlich folgendes ab: Zur Zeit des Zweiten Weltkrieges befürchtete man in Italien einen Luftkrieg. Aus diesem Grund leerte Italien seine Museen und die Kunstschätze von Florenz wurden in Kirchen, Schlössern und Villen der Umgebung gebunkert. Als der Krieg im Sommer 1944 dann Florenz erreichte, räumte der Deutsche Kunstschutz (eine Abteilung der Deutschen Wehrmacht) die Depots und fuhr die Kunstschätze nach Norden. An die 300 Bilder landeten im verlassenen Gerichtsgebäude von St. Leonhard in Passeier, darunter Gemälde von Botticelli, Caravaggio, Rubens, Tizian und Cranach.
Da die Evakuierung schnell vonstattengehen musste, wurden die Bilder nicht sehr sanft transportiert. Sie wurden auf den LKWs zwischen Stroh und Wolldecken gelagert. Einige von den Bildern wiesen nach dem Transport Risse oder auch Schimmelflecken auf. Ob das Lager in Südtirol als Zwischenspeicher eines organisierten Kunstraubes verwendet wurde oder ob es sich um reine Rettungsmaßnahmen handelte, wird von Kunsthistorikern bis heute kontrovers diskutiert.
Meine Aufgabe war es nicht, ein Urteil über dieses Ereignis abzugeben. Meine Aufgabe bestand darin, dieses Ereignis in einer Gefäßfüllung floral zu interpretieren. In dieser Interpretation begrenzte ich mich ausschließlich auf den Transport der Kunstwerke aus Florenz ins Passeiertal in Südtirol.
Meine Idee basiert vor allem auf dem Material, in welchem die Bilder gehüllt waren. Stroh war zusammen mit Wolldecken und Backpapier jenes Material, das den Bildern auf ihrem langen Weg nach Südtirol Schutz bot. So entstand die Idee, ein Gefäß aus Stroh zu gestalten, das den Blumen, die sich in ihm befinden, Schutz bietet. Um in meinem Gefäß auch das Thema der wertvollen Kunstwerke, die sich zwischen diesem Stroh verbargen, zu verdeutlichen, kam die Idee, Bilderrahmen in meine Gefäßgestaltung mit aufzunehmen.
Ein Kubus aus Stroh sollte entstehen. Auf diesem Kubus sollten sich Bilderrahmen aus Stroh aneinanderreihen und zwischen diesen Bilderrahmen sollten sich die Blumen ranken. Nun galt es, die Idee in die Praxis umzusetzen. Dafür benötigte ich zu aller erst Bilderrahmen und einen Unterbau aus Styrodur-Platten für meinen Kubus aus Stroh. Die viereckigen Bilderrahmen habe ich in ein Gemisch aus Stroh und Holzleim eingehüllt und am Kubus befestigt. In den Kubus habe ich mehrere Löcher für schmale Glasröhrchen gebohrt, in welchen die Blumen mit Wasser versorgt werden können. Diesen entstandenen Kubus habe ich anschließend komplett in Stroh eingehüllt. So entstand der Eindruck eines Strohballens.
Damit eine Gefäßfüllung zu einer Gefäßfüllung wird, fehlte noch die Füllung. Dabei war es mir wichtig, dass sich die Blumen zwischen den Bilderrahmen rankten und das Stroh und die Rahmen einen Schutzmantel um die Blüten bildeten. Außerdem wollte ich einheimische Blumen mit exotischen Blüten mischen. Die in Passeier versteckten Bilder stammen so ziemlich alle aus der Zeit der Renaissance, in welcher viele Entdeckungen gemacht wurden. Mit den Entdeckungen neuer unbekannter Länder kamen auch exotische Pflanzen nach Europa.
Aber auch die Uffizien-Kunstwerke waren etwas Exotisches in St. Leonhard. Man vermutete nicht wirklich, dass Kunstwerke von so hohem Wert in einem alten Gerichtsgebäude lagerten. Genauso wenig wie man sich solches Weltkulturerbe zwischen Stroh gebettet auf LKWs vorstellen kann. So stehen die exotischen Blumen gemischt mit einheimischen Blüten symbolisch für die Kunstwerke, welche auf den LKWs zwischen gewöhnlichem Stroh transportiert wurden.
Das Wertvolle versteckt zwischen dem Gewöhnlichen. Zwischen dem, das eigentlich im totalen Gegensatz zum großen Wert der Bilder steht. Aus dem Strohkubus wachsen die wertvollen Blüten empor und ranken sich durch die mit Stroh überzogenen Bilderrahmen. So wurde aus einer Idee eine Gestaltung.
Möchtest du mehr über die Uffizi-Kunstwerke lesen, die 1944/45 in Passeier versteckt waren?
Und Fotos von den Gemälden zwischen Strohballen sehen?
Hier findest du unsere Blogartikel dazu:
Blog | Uffizi in Passeier
Uffizi in Passeier
Die Sonderausstellung widmet sich einer unglaublichen, aber dennoch fast vergessenen Geschichte, die zu ihrer Zeit die Deutsche Wehrmacht, Mussolinis faschistische Behörden und die US-Army mehr als bewegte. Es geht um Gemälde von unschätzbarem Wert, die während des Zweiten Weltkrieges in St. Leonhard in Passeier gelagert waren.
Wer schützt Kunst im Krieg?
Menschen ziehen in den Weltkrieg, um Kunst zu schützen? Das scheint abwegig und notwendig zugleich. Ein Blick auf die Sonderausstellung, die davon erzählt, wie 293 Kunstwerken aus Florenz nach Passeier und abwechselnd in die Hände zweier Kunstschutz-Einheiten gelangt sind.
Der verschollene Fotograf
Ein mysteriöser Passeirer namens Franz Ploner.
Franz Ploner: Ein mysteriöser großer Mann, den man wahrscheinlich längst vergessen hat und doch ist er mit seinen Fotografien präsent. Ausschnitt aus einem Studiofoto mit Franz Ploner. Foto: Familie Ploner, nachträglich koloriert.
Ein mysteriöser Passeirer namens Franz Ploner.
Text und Fotokolorierung: Tobias Egger-Karlegger
Wie es der Zufall so will. Im Sommer letzten Jahres geriet ich an das Bilderarchiv der Familie Ploner, welches ich von einem Familienmitglied im Vertrauen erhielt, um die Fotos ein wenig zu sortieren und zu digitalisieren. Da es sich um zahlreiche Fotos und Postkarten handelte, zog sich die Arbeit über das Jahr hin und eigentlich wollte ich die Fotos schon wieder zurückgeben. Doch immer wieder fiel mir ein markantes Gesicht auf. Als ich die Fotos etwas sortierte, fand ich plötzlich den Namen heraus: Franz Ploner: Obst, Gemüse, Südfrüchte, Landesprodukte u. Kurzwaren steht auf einem Schild. Direkt darunter zu sehen ist wieder dieser große Mann wie auf dem Präsentierteller – unverkennbar.
Das wahrscheinlich zufällig aufgenommene Foto vom Geschäft beim Gasthof zum Strobl in St. Leonhard in Passeier um 1920 (vgl. Ansichtskarte von 1918), zeigt Franz, wie er das Geschehen vor seinem Laden beobachtet. Ein LKW (Modell Mannesmann-Mulag) mitten im Dorf war sicher eine Seltenheit zu dieser Zeit. Foto: Familie Ploner, nachträglich koloriert.
Seine Fotos in Chronik- und Geschichtsbüchern aus unserem Tal. Versteckt in den Bildverzeichnissen fand ich in verschiedenen Büchern seinen Namen, vor allem bei Bildern aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Ich stellte mir immer wieder die Frage: Wer war dieser Franz? Warum ist er auf so vielen Fotos zu sehen und warum gibt es nur Bilder von ihm in jungen Jahren?
Laut Fotos und Postkarten war Franz schon zu Kriegsbeginn 1914 beim 2. Regiment der Tiroler Kaiserjäger. Der letzte Brief an die Eltern ist von 1918. Daher ist davon auszugehen, dass er bis Kriegsende im Wehrdienst war und somit fast vier Jahre im Krieg.
In der Mitte Franz Ploner im Jahr 1914, die beiden anderen Männer sind unbekannt. Foto: Familie Ploner, nachträglich koloriert.
Eine Postkarte an die Eltern vom 28. Februar 1918 zeigt Franz Ploner (links) auf dem zugefrorenen Ossiacher See in Kärnten. Er schreibt im Brief beste Genesungswünsche an den Vater und bittet um Rückantwort, damit er einen Fronturlaub antreten kann, um den kranken Vater zu besuchen. Foto: Familie Ploner, nachträglich koloriert.
Das Fotoarchiv der Familie Ploner ist erstaunlich vollständig. Es gibt von fast jedem Familienmitglied Fotos von Kindes- bis ins hohe Alter bzw. auch Sterbebilder. Auf Nachfrage bei den Nachkommen habe ich die Information bekommen, dass der Franz Fotograf gewesen sei, jedoch den Verbleib wisse man nicht genau. Er soll auch mit Schmugglerware hantiert haben.
Das Hochzeitsfoto der Eltern von 1891 in Rabenstein. Der Vater Thomas war 15 Jahre älter als die Mutter Theresia. Foto: Familie Ploner, nachträglich koloriert.
Vier Schneeberger Knappen um 1900, ganz rechts der Vater Thomas. Foto: Familie Ploner, nachträglich koloriert.
Wurzeln in Rabenstein. Da mir bekannt war, dass sein Vater Thomas Ploner ein Bergknappe bzw. Grubenaufseher am Schneeberg war, habe ich die Taufbücher der damals noch eigenständigen Gemeinde Rabenstein durchgenommen. Und siehe da, gefunden! Franz Thomas Ploner geboren am 26. Mai 1894 in Rabenstein, Sohn des Thomas Ploner (geboren am 2. Dezember 1853 in Villanders, gestorben am 15. September 1919 in St. Leonhard) und der Theresia Pfitscher (geboren am 23. Oktober 1868 in Rabenstein und gestorben am 21. Juni 1950 in St. Leonhard).
Der Eintrag zur Taufe von Franz Thomas Ploner im Taufbuch von Rabenstein.
Das Todesdatum von Franz Ploner fehlt im Taufbuch. Auch notierte der Pfarrer nachträglich folgenden Passus: hat die verlorene italienische Staatsbürgerschaft auf Grund des Art. 11 Gesetzesdekret Nr. 23 vom 2.2.1948, wie aus der diesbezüglichen Mitteilung der Präfektur von Bozen Optionen-Revisionsamt hervorgeht, wiedererlangt. Das bedeutet im Normalfall, dass jemand die Staatszugehörigkeit zu Italien durch die „Option“ im Zweiten Weltkrieg verloren hat und sie durch den entsprechenden Antrag wieder zurückerlangte. Also könnte Franz das Land verlassen haben und nach dem Krieg wieder zurückgekehrt sein.
Familientragödie. Aufgrund mehrerer Familienfotos, reizte es mich, etwas über die Geschwister herauszufinden, um so vielleicht eine Verbindung zu Franz herstellen zu können. Besonders tragisch dabei ist der Tod der ältesten Schwester Maria, die im Hungerjahr 1918 im Alter von 20 Jahren an einer Lungenentzündung (wahrscheinlich der Spanischen Grippe) starb. Zuvor waren bereits ein Bruder (Alois 1892–1893) und eine Schwester (Barbara 1908–1909) im Kleinkindalter nach nur wenigen Monaten verstorben. Laut Sterbebild trat der Vater im Jahre 1909 seine Rente an und kaufte laut Grundbuch im Jahr 1913 das Windeggerhaus in St. Leonhard. Die Familie lebte also von da an nicht mehr in Rabenstein.
Das Familienfoto wurde wahrscheinlich 1917 beim Windeggerhaus in St. Leonhard aufgenommen. Der Vater ist allem Anschein noch gesund und die älteste Tochter Maria lebt noch. Stehend v.l.n.r: Franz (geboren 1894, Todesdatum unbekannt), Anna (1902–1936), Maria (1898–1918), Sepp (1904–1969), Balbina (1906–1996). Sitzend v.l.n.r.: Thomas (1853–1919) und Theresia (1868–1950). Auf dem Foto fehlt der um zwei Jahre jüngere Bruder von Franz, Alois, später bekannt als Förster (1896–1973), der sich wahrscheinlich gerade im Krieg an der Front befindet. Foto: Familie Egger-Karlegger, nachträglich koloriert.
Das wohl „skurrilste“ Foto aus der Sammlung der Familie Ploner. Ob der Bub schläft? Der Katze ist es jedenfalls egal. Fotograf: Ploner Franz, Foto: Familie Ploner, nachträglich koloriert.
Rückkehr aus dem Krieg. Nach vier Jahren Kriegszeit kamen Franz und sein Bruder Alois zurück in die Heimat. Es wird für sie sicher nicht einfach gewesen sein, wieder ein geregeltes Leben zu führen und in der Gesellschaft in St. Leonhard Fuß zu fassen. Hinzu kamen der plötzliche Tod der Schwester Maria im selben Jahr und nicht mal ein Jahr später auch noch der Tod des Vaters Thomas nach langer Krankheit, der vermutlich an einer Staublunge erkrankt war.
Das Foto zeigt die Familie Ploner zusammen mit der Familie der Mutter Theresia Pfitscher „Locher“ aus Rabenstein, vermutlich nach der Beerdigung des Vaters Thomas Ploner beim Tirolerhof im September 1919. Alle tragen schwarze Schürzen bzw. schwarze Kleidung, nur Franz präsentiert sich ganz elegant im weißen Anzug. Vorne in der Mitte sitzend die Großmutter Anna Pöhl Wwe. Pfitscher (1839–1922) zwischen ihren Töchtern. Foto: Familie Ploner, nachträglich koloriert.
Aktives Gesellschaftsleben bei den Umgestülpten. Es scheint, als hätte sich Franz doch ganz gut in der Dorfgemeinschaft von St. Leonhard zurechtgefunden. Zu sehen ist er allerdings nicht nur auf den Mannschaftsfotos der Feuerwehr, sondern sein Gesicht findet sich auch bei einem etwas schräg klingenden Verein namens Die Umgestülpten – Vince Luna wieder. Laut der Zeitung Volksbote vom 17.05.1923 wurde dieser Verein am Auffahrtstage 1898 vom Arzt Dr. Eduard Neurauter, genannt „Zeus“, gegründet. Es ist die ’Vince Luna’ oder Gesellschaft der ’Umgestülpten’, ein Verein, der fröhliche Geselligkeit mit Gesang und Gemütlichkeit pflegt, so liest man im Artikel. Die Mitglieder dieses Vereins waren allesamt im Dorf angesehene Bürger und Beamte mit Rang und Namen. Welche Aufnahmebedingungen dieser Verein hatte, geht nirgends hervor.
Dass der Franz Teil dieser Gruppe war, wundert nicht, denn die „Plonerer“ sind allgemein sehr gesellige Menschen, so sagt man. Jedenfalls steht fest, dass in der Stammtischgesellschaft gerne Ausflüge und gesellige Abende verbracht wurden, so beschreibt es auch Bergrevierinspektor Hans Wallnöfer (1881–1949) in seinen Erzählungen. Im Jahr 1928 wurde der Verein der Umgestülpten aufgelöst. Grund dafür könnten Unstimmigkeiten mit den italienischen Behörden gewesen sein.
Der Vince Luna Verein bei der 15 jährigen Gründungsfeier 1913. Da sich das Bild in der Sammlung der Familie Ploner befindet, ist anzunehmen, dass dieses Foto von Franz gemacht wurde. Zu sehen sind Persönlichkeiten des Tals, welche bereits vor dem Krieg im Militär aktiv sind. Die meisten von ihnen sollten sich ein Jahr später an der Front wiedersehen. Stehend v.l.n.r.: Pixner Luis – Teißwirt (1871–1941), Pfitscher Michael – Locher Much, Metzger (1877–1944), Hptm. Haller Leonhard – Egger, Prantach (1886–1948), Kofler Leonhard – Unterzögg (1880–1953), Delucca Eduard (1888–1953). Sitzend v.l.n.r.: Pixner Josef – Langer Neuner (1871–1957), Tschöll Vinzenz – Garber, Saltauserwirt (geboren 1876), Mader Vinzenz – Elektrotechniker (1868–1933) und Gstrein Vinzenz – Oberschramach (1855–1930). Fotograf vermutlich Franz Ploner, Fotobesitz Familie Ploner, nachträglich koloriert.
Der Vince Luna Verein Mitte der 20er Jahre. Stehend hinten rechts Franz Ploner. Sitzend v.l.n.r.: Pirpamer Josef – Mader Peppi, Pixner Josef – Langer Neuner, Delucca Eduard und Kofler Leonhard. Foto: Familie Ploner, nachträglich koloriert.
Bei den „Steigern“ der Feuerwehr von St. Leonhard sieht man Franz hinten in der Mitte, als scheinbar größten Mann. Das Foto wurde 1921 vor dem Gasthof zum Strobl aufgenommen. Foto: Familie Egger-Karlegger, nachträglich koloriert.
Die letzten Fotos von und mit Franz. Im Bilderarchiv befinden sich nach dieser Zeit immer weniger Fotos, die auf den Fotografen Franz Ploner hindeuten. Eigentlich sollte er mit knapp 30 Jahren die Blütezeit seines Lebens erreicht haben, doch ich vermute, dass er nicht so gerne einer Arbeit nachgegangen ist, sondern sich lieber unter die Menschen mischte. Vielleicht hat er sich an kriminellen Machenschaften beteiligt, wie Schmuggel oder ähnlichem, was zu dieser Zeit durchaus üblich war, und musste deshalb untertauchen? Vielleicht hat er in seinem Laden nicht nur Südfrüchte und Kurzwaren verkauft, sondern auch Schmugglerware? Der letzte Hinweis, dass es sein Geschäft beim Strobl gab, ist ein Artikel im Volksbote vom 4. März 1920, in dem berichtet wird, dass in seinem Laden gewaltsam eingebrochen wurde und mehr als 500 Lire gestohlen wurden. Auch existiert eine Gewerbeliste von 1921, in der das Geschäft als Landesproduktenhandlung angeführt wird.
Auf dem Bild von Franz Ploner sind vier Samer, im Volksmund Kraxntrooger oder Schmuggler, zu sehen. War Franz vielleicht mit ihnen unterwegs? Fast sicher, sonst hätte er das Foto ja nicht machen können. Fotograf: Franz Ploner, Talarchiv Passeier, nachträglich koloriert.
Das Foto zeigt Franz Mitte der 1920er Jahre auf einer Kutsche talauswärts bei der Gerlosbrücke vor dem Reinstadlhof, den seine Schwägerin Theresia Egger 1925 erbt. Das Plonerhaus, wie es auch genannt wird, brennt 1956 vollkommen nieder. Foto: Familie Ploner, nachträglich koloriert.
Zwei Alpini-Soldaten mit Skiern in den Gåntëlln, die zwei anderen hinten müssen es wohl noch lernen – dem Hund gefällt es. Fotograf: Franz Ploner, Besitz Familie Ploner, nachträglich koloriert.
Drei unbekannte Frauen beim Kaseregg und im Hintergrund ein Teil des Dorfes St. Leonhard Mitte der 1920er Jahre. Fotograf: Franz Ploner, Besitz Familie Ploner, nachträglich koloriert.
Die Spuren verlieren sich. Neben ein paar Familienfotos Ende der 20er Jahre und Fotos mit einem Stempel mit dem Namen von Franz auf der Rückseite gibt es keine Spur mehr zu seinem Verbleib von ihm im Passeiertal. Im Jahr 1936 stirbt die Schwester Anna. Im selben Jahr wird der Name Ploner im Zuge der Italienisierung in Pioneri geändert, so geht es aus dem Eintrag des Bruders Alois im Taufbuch hervor. Dessen Sohn Albert (Neffe von Franz) wurde 1939 Mitglied der Faschistischen Jugend und erst 1944 wird der Name wieder in Ploner zurück geändert.
Vorne sitzend Franz Ploner mit einer unbekannten Gruppe von Personen, vermutlich Ende der 20er Jahre. Der Mann mit der Gitarre gehört zum italienischen Militär. Foto: Familie Ploner, nachträglich koloriert.
Das Foto zeigt Franz mit einem Mädchen. Es könnte sein Patenkind gewesen sein. Informationen dazu gibt es leider keine. Foto: Familie Ploner, nachträglich koloriert.
In der Zwischenzeit muss sich Franz für die „Option“ ins Deutsche Reich auszuwandern entschieden haben. Wohin der Weg ihn geführt hat, ist nicht bekannt, ebenso wenig ob Franz wieder in die Heimat zurückgekehrt ist. Verwandte wissen zu berichten, dass Franz nach dem Zweiten Weltkrieg in der Umgebung von Innsbruck gelebt haben soll. 1950 stirbt die Mutter. Fotos von der Beerdigung gibt es leider nicht. Mit dem Brand beim Reinstadlhof vulgo Plonerhaus sind wohl auch einige Fotos und Erinnerungen in Flammen aufgegangen.
Der letzte datierte Befund, dass sich Franz im Passeiertal aufhält, ist ein Schreiben des Inhabers des Gasthauses Leiteben (heute verlassen und verfallen) unterhalb der Jaufenalm von 1927, in dem es um eine Fotobestellung geht: Guter Freund! habe heute im meinem Schreibsachen alte Fotografien gefunden bräuchte des halb die bestellten nicht zu machen die Aufnahmen werde ich wergieten Mit Grus Plangger Cass. Leiteben. Foto: Familie Ploner, nachträglich koloriert.
Das vielleicht letzte Foto von Franz Ploner (links) vor dem Denkmal in St. Martin am Schneeberg. Jahr und Fotograf unbekannt. Foto: Familie Ploner, nachträglich koloriert.
Von Franz Ploner bleibt die Erinnerung an einen mysteriösen großen Mann, der mit seinen Fotografien doch nicht so einfach aus unserer Talgeschichte vergessen werden kann.
Die Geschichte sollte hier eigentlich noch nicht zu Ende sein.
Wer Hinweise zu Franz Ploner und seiner Familie hat, mag sie uns bitte weitergeben.
UPDATES:
7. Juni 2023: Franz Ploner ist in Innsbruck im Ostfriedhof im Stadtteil Pradl begraben. Als Todesdatum ist der 24. Jänner 1970 angegeben, sein Grab Nr. 66 befand sich in Grabfeld 61, es ist nicht mehr erhalten. In den Adressbüchern von Innsbruck findet sich 1964 und 1970 ein Franz Ploner als Pensionist mit Wohnsitz in der Dorfgasse 7.
Es war einmal ein Doktorhaus
Über eine Villa der Jahrhundertwende, die nicht mehr ist.
Das Doktorhaus in St. Leonhard in Passeier um 1930. Foto: Palais Mamming Museum.
Über eine Villa der Jahrhundertwende, die nicht mehr ist.
Text und Fotos: Manuel Thoma
Vier Jahrzehnte und einen Besitzerwechsel mit Renovierungsplänen später steht es nun vor dem Abriss, lese ich Anfang Jänner 2023 im Artikel Liegengebliebenes von Judith Schwarz in diesem Blog des MuseumPasseier. Die Rede ist vom sogenannten Doktorhaus, Ebnerhaus oder auch Neurauterhaus, einer alten Villa, die bis vor kurzem am unteren Ende der Kohlstatt in St. Leonhard in Passeier stand.
Für mich war es immer schon das „Neurauterhaus“, ohne jedoch irgendetwas Genaueres über dessen Geschichte oder den Namensgeber zu wissen. In meinen Erinnerungen war es nie bewohnt, es stand halt einfach da. Dann jedoch, im Wissen, dass es eben nicht mehr lange dastehen wird, entstand die Enttäuschung, niemals erfahren zu können, was es noch im Inneren beherbergte. Ich hatte nämlich schon immer diese kindliche Neugier, genau das wissen zu wollen. War es noch eingerichtet oder komplett leer? Wurde es irgendwann nochmal renoviert oder war alles noch so, wie vor 50, 60 Jahren? Gab es dort wirklich eine Turnhalle, wie es früher unter uns Kindern erzählt wurde?
Glücklicherweise bekam ich noch die Möglichkeit, mir das Haus anzusehen, sogar in Ruhe bis in die oberen Etagen spazieren zu können. Und nein, es gab dort keine Turnhalle, jedoch wunderbar hohe Räume mit alten Dielenböden, mehrere Kachelöfen, Möbel, teils im Stile der 50er, 60er Jahre, ein Stiegenhaus mit angenehm niedrigen Stufen und einem massiv gearbeiteten Holzgeländer… gute Handarbeit eben. Alles in einem Zustand, als wäre das Haus bis vor kurzem noch bewohnt gewesen. Dieser Besuch war der Auslöser, mich genauer mit der Geschichte dieses Hauses und seiner Bewohner*innen zu befassen.
Ich begann also meine Recherchen in Büchern und verschiedenen Online-Archiven. Meine Ausgangspunkte waren: Doktorhaus, Ebnerhaus, Neurauterhaus. Und ich hatte einen Namen:
Dr. Ed(uard) Neurauter
Doctorhaus, neu. So kurz und bündig beschreibt Josef Tarneller das Haus in seinem Werk über die Hofnamen im Burggrafenamt von 1909. Doch bereits 1895 fällt einem Zeitgenossen die rege Bautätigkeit in St. Leonhard auf und er bemerkt dazu Folgendes: Der Arzt Dr. Neurauter baut eine Villa in der Nähe des Bräuhauses, sowie auch in der Nähe des Gasthof Theis gebaut wird. Ebenso hat der neue Stroblwirth einen Stock aufgebaut.
Die Zeichen standen auf Aufbruch in jener Zeit. Die Talstraße von Meran bis St. Leonhard war gerade im Entstehen, nichtsdestotrotz hatte sich der Tourismus bereits Jahre vorher schon bis in die hintersten Ortschaften des Passeiertals ausgebreitet. Neue touristische Strukturen wurden gebaut, bestehende erweitert. Vor allem die Sommerfrischler*innen aus den Städten zog es in den Sommermonaten in die höhergelegenen Täler. Die Kurstadt Meran war gerade inmitten eines wirtschaftlichen und kulturellen Höhenflugs. Grandhotels und unzählige Villen entstanden in Meran, viele davon Bauten des Historismus und des Jugendstils. Vielleicht dienten sie als Vorbild für unser Doktorhaus?
Das Doktorhaus am 22.01.2023.
Das Doktorhaus war einzigartig für das Passeiertal, brachte es doch ein Stück städtisches Flair in ein Gebirgstal, welches zur Zeit der Erbauung noch nicht einmal über eine Straße nach Meran verfügte. Mit seinen verzierten Rundbögen und dem gusseisernen Geländer des überdachten Balkons, der Eingangstür mit kunstvoll gestaltetem Oberlicht oder dem mit Zinnen versehenen Turm war es immer schon anders als alle anderen Gebäude des Tales. Insofern dürfte das Haus bereits als Neubau die Aufmerksamkeit vieler Talbewohner*innen und Durchreisenden auf sich gezogen haben, führte doch der damalige Talweg direkt am Haus vorbei.
Oberlichte der Eingangstür des Doktorhauses.
Vom Doktorhaus tauchen nur sehr wenige detaillierte Fotoaufnahmen älteren Datums auf. Die erhaltenen Abbildungen zeigen jedoch, dass sich das Gebäude von 1895 bis Jänner 2023, also 128 Jahre lang, kaum verändert hat.
In den Zeitungsartikeln jener Zeit wurde das Haus nur sehr selten erwähnt, höchstens in nebensächlichen Bemerkungen. So zum Beispiel 1902 anlässlich des 25 Jahr-Jubiläums von Dr. Neurauter, als am Vorabend eine Lampionsbegleitung zum Doctorhaus, veranstaltet wurde, wo eine kleine Serenade stattfand und der Jubilar am nächsten Tag mittags von seinem schön geschmückten Wohnhause abgeholt und in feierlichem Zug zum Gasthof Theis geführt worden war. Eine weitere Erwähnung fand das Haus 1907 in einer Meuchelmordgeschichte, als der Wirt des Bräuhauses den betrunkenen Johann Plattner (ehemaliger Bauer auf dem Aignerhof) gegen das sogenannte Doktorhaus hin begleitete, in dessen Nähe Plattner kurze Zeit später von Josef Pixner, einem ledigen Knecht aus St. Martin, erschossen wurde. Nochmal kurz erwähnt wurde das Haus im Jahr 1919 in der Zeitung Der Tiroler: Die Villa Dr. Neurauter in St. Leonhard in Passeier ist durch Kauf um 12.000 Lire an die Gemeinde übergegangen. Über diesen Verkauf konnte ich jedoch keine weitere Dokumentation finden, auch ist im Grundbuch dazu nichts eingetragen worden.
Links das alte Bräuhaus, rechts das Doktorhaus, im Vordergrund ein Mann. Ansichtskarte um 1909 aus dem Archiv von Manuel Thoma, Fotograf Otto Mathaus.
Ganz anders verhält es sich bei seinem Erbauer Dr. Eduard Neurauter. Sein Leben kann durch Berichte in Zeitungen und Dokumenten über viele Stationen hinweg nachverfolgt werden. Wer war also dieser Mann, der kurz vor der Jahrhundertwende in einem kleinen, bäuerlichen Dorf eine Jugendstil-Villa errichten ließ?
Eine herzensgute Seele. Ein Artikel in der Ausgabe vom 24.02.1912 der Tiroler Stimmen berichtet vom Tod des Dr. Eduard Neurauter, Arzt in Passeier. Im Nachruf wird ein Mann beschrieben, der, allen Schwierigkeiten zum Trotz, seine gesamte ärztliche Laufbahn im Passeiertal verbracht hatte. Bei der Bevölkerung war er beliebt, bekannt für seine Gastfreundschaft und Geselligkeit, angesehen und geschätzt für seine Bemühungen als Arzt, Ehrenbürger von St. Leonhard und St. Martin.
Der Gesundheitszustand ist gegenwärtig recht gut, während im April und Mai Alles voll Lungenentzündung mit Influenza war, welche beide schlimmen Gäste aber an unserem geschickten Gemeindearzte Dr. Neurauter einen unerbittlichen Gegner fanden, vor dem sie schließlich die Waffen streckten. Aus dem Volksblatt vom 27.07.1892
Eduard Neurauter entstammt einer Bauernfamilie aus Längenfeld im Ötztal, er wurde dort 1845 geboren. Und obwohl er nicht aus einem bürgerlichen Hause kommt, hat er die Möglichkeit bekommen, das k.k. Gymnasium in Brixen zu besuchen und anschließend in Innsbruck das Medizinstudium zu absolvieren. Er kommt 1876, gleich nach Abschluss seines Studiums, als Gerichtsarzt ins Passeiertal, wo er 1879 Maria Wilhelm aus St. Leonhard heiratet. Sie wohnen damals noch im Deluccahaus. Maria Wilhelm stirbt dann jedoch 1887 im Alter von nur 30 Jahren an einer Leberentzündung. Bereits ein Jahr danach ist Eduard Neurauter mit Maria Linhart aus Meran verheiratet, 1889 kommt die gemeinsame Tochter Aloisa auf die Welt. Sie wird das einzige Kind des Paares bleiben.
An die “Neurauter-Frauen” erinnert heute nur noch das Familiengrab an der südlichen Mauer der Pfarrkirche. Auch die Mutter von Eduard Neurauter, Maria Plörer, ebenfalls aus Längenfeld, ist in diesem Grab bestattet worden. Sie starb nur zwei Wochen vor Maria Wilhelm, seiner ersten Frau. Über die einzelnen Familienmitglieder konnte ich aus den zeitgenössischen Quellen leider nur sehr wenig herausfinden. Es dominiert die Persönlichkeit des Gemeindearztes.
Links: Vermutlich Maria Wilhelm, erste Ehefrau von Dr. Eduard Neurauter, geboren am 10. Mai 1857 in St. Leonhard in Passeier, gestorben am 30. Juni 1887 in St. Leonhard in Passeier. Rechts: Vermutlich Maria Plörer, Mutter von Dr. Eduard Neurauter, geboren 1801 in Gries bei Längenfeld, gestorben am 15. Juni 1887 in St. Leonhard in Passeier.
Ein Arzt im Gebirge. Was es heißt, in dieser Zeit Gemeindearzt eines Hochgebirgstales zu sein, können wir mehreren Zeitungsartikeln entnehmen. Ein unbekannter Zeitgenosse schrieb dazu am 27.02.1912 in den Tiroler Stimmen als Nachruf eine persönlich erlebte Geschichte mit dem Arzt, welche über die Beschwerlichkeit jener Tage berichtet, dabei aber auch den Charakter Neurauters beschreibt:
Südtirol, 25. Februar. (Eine herzensgute Seele.)
Im Berichte der „T. St.“ Nr. 45 vom Tode des Dr. Neurauter von St. Leonhard i. P. schreiben Sie: „Er war eine herzensgute Seele“. Zum Beweise dieses Satzes kann folgende Erinnerung dienen.
Vor ungefähr 25 Jahren war ich einmal an einem Winterabend bei ihm auf Besuch. Er hatte gerade seine Pfeife angezündet und seine schneeigen Stiefel in der Küche ausgezogen; denn er war von einem Gange von Schlattach zurückgekehrt. Da kam ein Bauer von Obertall und bat ihn, zu seinem Weibe, welches im Wochenbett war, zu gehen. Er sei, so erzählt er, schon in der Früh vom Hause fortgegangen und sei den ganzen Tag herumgelaufen, um einen Arzt zu bekommen, habe aber keinen auftreiben können. Der Arzt in Schönna sei unwohl und könne nicht gehen und in Meran habe er mehrere Ärzte aufgesucht, aber keiner sei gegangen. Endlich habe er sich noch entschlossen, nach St. Leonhard in Passeier zu gehen.
Dr. Neurauter wandte ein, Tall gehöre nicht zu seinem Sprengel, man brauche über 4 Stunden, er sei schon ganz abgehetzt und müde, es schneie. Da unterbrauch ich ihn mit der Bitte: „Mein lieber Doktor, sei so gut und geh. Es gilt eine Frau im Wochenbett.“ Er schien dies erwartet zu haben, denn sogleich erwiderte er recht gutmütig: „Wenn du ihm auch noch hilfst, muss ich nachgeben. Gehen wir also in Gottes Namen.“ Ich wusste aus Erfahrung, dass man seinem Edelmute sehr viel und seiner Leistungsfähigkeit im Gehen Außerordentliches zutrauen konnte.
Indem nun seine Frau ihm ein Glas Wein vorstellte, schaute sie ihn mit einem Seitenblick auf den Bauer fragenden Blickes an. „Natürlich, sagte er, er braucht es notwendiger als ich.“ Sogleich brachte sie auch dem Bauer ein Glas Wein und suchte für ihn etwas aus dem Speisekasten heraus. Während der Doktor die Stiefel anzog, steckte ihm die Frau ein kleines Fläschchen „Holer“ und ein Stück Brot in die Rocktasche; dann ging es in die Winternacht hinaus, durch Schneegestöber in die Berge, Tall zu.
Als mir der Doktor am folgenden Tage begegnete, rief er mir schon von weitem zu: „Gott sei gedankt, dass ich gestern nach Tall gegangen bin; drei Personen habe ich das Leben gerettet; die Mutter und zwei Büblein sind frisch und gesund“ und sein ganzes Gesicht leuchtete vor Freide. Ich musste dann mit ihm gehen, um ein kleines Freudenfest zu feiern. Die Rechnung des Doktors an den Tallerbauern war dann so mäßig, dass sie selbst dem armen Bäuerlein zu niedrig schien. – Ja ja, der verstorbene Dr. Neurauter war wirklich eine herzensgute Seele.
Dies ist der einzige Bericht, in dem auch die Frau des Arztes erwähnt wird. Wobei unklar ist, ob es sich um seine erste Frau Maria Wilhelm oder um Maria Linhart handelt. Sicher ist jedoch, dass das Ehepaar Neurauter zu der beschriebenen Zeit noch im Deluccahaus wohnte. Der Artikel gibt außerdem eine Vorstellung davon, welche körperlichen Anstrengungen ein Arzt in unserer Gegend auf sich nehmen musste, besonders im Winter und zu einer Zeit, als es noch keine Talstraße gab und die Wege allgemein in sehr schlechtem Zustand waren.
Wer den schwierigen Beruf eines Arztes im Gebirge kennt, wird auch die Ovation begreifen, die dem Jubilanten von der Bevölkerung dieses Thales bei dieser Gelegenheit dargebracht wurde und die von dessen Beliebtheit Zeugnis gibt. Aus den Innsbrucker Nachrichten vom 08.01.1902 anlässlich der Feier zum 25 Jahr-Jubiläum von Dr. Neurauter als Arzt im Passeiertal.
Fein sein, gemütlich sein, fröhlich sein bei Sang und Klang. Ein vielbeschäftigter Mensch brauchte natürlich auch einen Ausgleich zu seiner anstrengenden Arbeit. Und die fand Eduard Neurauter, wie öfters berichtet wird, bei Musik und Geselligkeit, und im Besonderen bei einer Vereinigung namens Vince luna, auch genannt „Die Umgestülpten“, welche von Dr. Neurauter, genannt „Zeus“, 1898 gegründet wurde, und der er lange Zeit als Obmann vorstand. Dabei handelte es sich um eine Gesellschaft, welche aus Bürgern und Beamten des Dorfes bestand. So wurden neben regelmäßigen Treffen der Mitglieder auch besondere Feierlichkeiten mit dem vereinseigenen Streichorchester musikalisch begleitet, so z.B. die Feier für den neu ernannten Landesgerichtsrat Bezirksrichter Karl Delago. Auch Johann Wallnöfer, der ehemalige Hutmann am Schneeberg, war auf einer Durchreise Gast bei einer Sitzung von Vince luna: Die Sitzung dauerte aber sehr lange – der Mond hatte gesiegt, war aber schon im Verblassen. Da Eduard Neurauter in seiner Studienzeit Mitglied der Tiroler Studentenverbindung Corps Gothia war und von daher bereits mit dem Verbindungswesen vertraut war, könnte man Vince luna als eine Art „Weiterführung“ der Verbindungstätigkeit sehen.
In dieser Gesellschaft lebt noch der Geist Dr. Neurauters, der bis in sein Alter ein jugendfrisches, frohes Studentenherz bewahrte und wegen seiner Liebenswürdigkeit und Tüchtigkeit auch heute noch in der Erinnerung der Passeirer fortlebt. Aus dem Volksbote vom 17.05.1923, anlässlich der Feier zum 25jährigen Jubiläum von Vince luna.
Die selbsternannte „Intelligenz u. Halbintelligenz von St. Leonhard“, welche sich im Jahr 1907 beim Sandwirt zusammenfand und auf einem Foto verewigt wurde, schlug vermutlich in eine ähnliche Kerbe wie Vince luna: Eine Versammlung von lokalen Persönlichkeiten, Beamten und Vertretern der Geistlichkeit. Mit dabei ist auch Dr. Neurauter (sitzend, Dritter von rechts). Postkarte aus dem Jahr 1907 von Karl Gögele, dem späteren Dekan von St. Leonhard, an seinen Bruder Peter Gögele in Innsbruck. Mehr zur Postkarte.
Dr. Neurauther leidet wahrscheinlich an Gehirnerweichung, berichtete am 02.02.1912 der Tiroler Volksbote. Zwanzig Tage später verstarb er im Alter von 67 Jahren in St. Leonhard. Er wurde unter großer Beteiligung der Bevölkerung, Geistlichkeit, Verwaltung und Politik zu Grabe getragen. Einige der Gäste reisten dafür sogar mit dem Automobil aus Meran an.
Sterbebild Dr. Eduard Neurauter aus dem Archiv von Harald Haller.
Nach seinem Tod lebten die Witwe Maria Neurauter und die Tochter Aloisia (genannt die „Doktor Luise“) zurückgezogen im Doktorhaus. Maria Neurauter wurde bis zu ihrem Tod am 11.09.1937 von ihrer Tochter umsorgt. Danach erbte Tochter Aloisia das Haus und verkaufte es 1944 an den Gemeindearzt Dr. Romedius Ebner. Damit zog eine neue Arztfamilie ins Doktorhaus ein. Mit Aloisa Neurauter stirbt am 08.02.1966 das letzte Mitglied der Familie Neurauter, weitere Nachfahren sind bisher nicht bekannt.
Mittlerweile ist auch das Doktorhaus verschwunden, womit die Kohlstatt in St. Leonhard wieder einmal um ein historisches Gebäude ärmer geworden ist. Nach dem Schmiedhaus, dem alten Kindergarten und dem Lodenwalcherhaus musste nun auch das Doktorhaus einem Neubau weichen. Zumindest wurde so die Aufarbeitung der Geschichte dieses Hauses und seiner Bewohner*innen angestoßen, um das Doktorhaus auch der Nachwelt, wenigstens in dieser Form, erhalten zu können. Ja, das Doktorhaus, das war einmal…
Doktorhaus am 22.01.2023 – 28.01.2023 – 04.02.2023.
Falls du Fotos zum Doktorhaus hast, melde dich!
Wir würden sie sehr gerne sehen.
info@museum.passeier.it
Interessiert dich weitere Lektüre zum Doktorhaus?
Lies auch den Blogartikel zur Arzttochter Berta Ebner, die von 1930 bis 1980 im Doktorhaus lebte.
147 Nägel und ein Brett
Wissenswertes über ein längst vergessenes Gerät.
Wissenswertes über ein längst vergessenes Gerät.
Von Annelies Gufler
Das Museum ist doch in Winterpause, oder etwa nicht? Winterpause ja, Winterschlaf nein. Hinter den Museumsmauern wird weiterhin fleißig gearbeitet. Aber was? Die Museumsobjekte werden inventarisiert. Denn auch hier muss Ordnung herrschen. Jedes Teil wird hervorgekramt, vermessen, gewogen und genau unter die Lupe genommen. Eines davon ist die Hachl.
„Hachl. Ein Werkzeug bestehend aus einem geschweiften Brett aus Hartholz mit mittig rund angeordneten spitzen Eisennägeln, die zusätzlich durch einen Eisenring verstärkt sind. Es dient dem Reinigen der gebrochenen Flachsfasern.“
lese ich als Objektbeschreibung in den Museumsunterlagen.
Soweit so gut, aber was macht man mit einer Hachl? Ich selbst habe bis dato keinerlei Erfahrung mit diesem Gerät, außer dass man sich mit den spitzen Eisennägeln hervorragend stechen kann. Daher werfe ich die Suchmaschine an und das Abenteuer Recherche kann beginnen!
Der Flachs, der Lein, der Hoor, die Hechel, das Werg, der Hechler, der Hechelkrämer usw. All diese Begriffe und noch viele mehr spuckt die Suchmaschine aus. Ganz schön viel Unbekanntes auf einmal, aber der Reihe nach.
Was hat die Hachl mit Haaren zu tun? Der Flachs wird auf psairerisch der Flåx oder auch der Hoor genannt. Flachs ist eine einjährige Krautpflanze, die zwischen 60 cm und 100 cm hoch wird. Die Blüte besteht aus fünf lanzenförmigen blauen Blättern. Die Aussaat soll am 100sten Tag des Jahres erfolgen, die Ernte ca. drei Monate später. Wichtig ist, dass der Flachs sorgsam gejätet wird. Zu Dreikönig sollte der Flachs fertig gesponnen sein. Flachs wird im Allgemeinen in Verbindung mit Haar gebracht, z.B. flachsblondes Haar, daher kommt wohl auch der Dialektbegriff der Hoor.
Flachsblüte im Acker des MuseumPasseier, Aufnahme von 2012. Foto: MuseumPasseier
Der Flachsanbau in Passeier geht bereits Anfang des 20. Jahrhunderts stark zurück. In alten Zeitungen finde ich, dass um 1888 auf dem Katharinamarkt in Meran noch mit Flachs gehandelt worden ist. Zwei Säcke Flachs hatten damals ungefähr den gleichen Wert wie 1kg Fleisch. Die Hachl gibt es heute noch auf den Höfen, haben mir Passeirer*innen älterer Generation erzählt. Dass Flachs angebaut bzw. verarbeitet wurde, haben sie selbst nie erlebt. Unter den Objekten bezüglich Flachsverarbeitung finden sich im MuseumPasseier eine Hachl aus Hinterpasseier und eine vom Kammerveithof in St. Leonhard. Warum der Flachsanbau bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in Passeier endete, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
Die zwei Hachlin im MuseumPasseier aus dem 18. Jahrhundert.
Foto 1-3: Die Hachl aus Hinterpasseier. Länge 57 cm. Breite: 17,3 cm. Eisennägel Höhe 7,7 cm. Eisenring Umfang 51 cm. Gewicht: 2537 g.
Foto 4-6: Die Hachl vom Kammerveithof in St. Leonhard in Passeier. Länge 64 cm. Breite 18 cm. Eisennägel Höhe 6,7 cm. Eisenring Umfang 53,4 cm. Gewicht: 2088 g.
Auch wenn im 20. Jahrhundert kein Flachs in Passeier angebaut wurde, gebraucht hat man ihn dennoch notwendig. Das gesponnene Garn wurde dazu verwendet, um Leinenstoffe, Loden, Seile, Teppiche und Fackeln herzustellen. Aus dem gewebten Leinenstoff entstanden harbine Pfoatn, Blusen, Leinwände, Tischdecken… Der Flachs hat den Vorteil, dass er wesentlich strapazierfähiger ist als Wolle. Zudem bilden die hohlen Fasern eine Isolationsschicht, die kühlend im Sommer und wärmend im Winter ist.
Er ist ein „Mädchen für Alles“. So wird in einer Dokumentation des Ötztaler Museum der Lainsoom (enthaltene Samen in den Kapseln der Flachspflanze) bezeichnet, da er eine besondere Bedeutung in der Volksmedizin und in der Naturheilkunde hatte.
Das Ötztal als Flachslieferant für Passeier. Bereits der einst reichste Passeirer Michael Hofer handelte mit Flachs aus dem Ötztal. Flachshändler teils einzeln, teils zu Gesellschaften vereint, kauften früher den Flachs und lieferten ihn über die Berge.
Wie kam man zu einer harbinen Pfoate? Dafür war ein langer Aufbereitungsweg notwendig.
Raufen – Ausreißen der Pflanze mit der Wurzel, wobei jeweils eine Handvoll zu einer Garbe gebunden wird.
Riffeln – der Flachs wird durch einen Riffel gezogen, um die Samenkapseln zu entfernen.
Reaßn – die Garben werden auf eine frisch gemähte Wiese gelegt, Wind und Wetter ausgesetzt, mehrmals umgedreht und mit Wasser benetzt. Dadurch tritt ein Fäulnisprozess ein und die Flachsfaser löst sich vom Stängel.
Trocknen – dafür werden die Garben geggårggert, bis sie ein silbernes Aussehen erhalten.
Prächlin – hierbei kommt die Prächl zum Einsatz. Mit diesem Gerät werden die Holzteile des Stängels gebrochen und die Flachsfaser kommt zum Vorschein.
Schwingen – der Flachs wird auf einen Schwingstock gelegt und mit einem Schwingmesser werden die groben Holzteile entfernt.
Die Schritte der Flachsverarbeitung. Ein Video der Südtiroler Bäuerinnen-Organisation von 2018. Quelle: YouTube.
Hecheln siebter und letzter Schritt – der Flachs wird bündelweise mehrmals nacheinander durch die Hachl gezogen. Zuerst durch eine grobe, dann durch eine feinere. Dann sind die Flachsfasern gereinigt, geglättet und vom Stängel getrennt. Den dabei entstehenden Abfall nennt man Wärch. Durch das Hecheln bekommen die Fasern noch den letzten Feinschliff verpasst. Den daraus entstandenen Langfaserflachs flechtete man zu Zöpfen oder Puppen und teilte ihn in drei Kategorien: Feinstes Hoor verwendete man für Blusen und Pfoatn. Mittlere Qualität wurde zu Leintüchern und Tischdecken verarbeitet. Aus dem grob Rupfinen fertigte man Säcke, Seile, Fackeln oder Teppiche.
„Selbst gewonnen, selbst gemacht“. Nicht umsonst war ein Schrank voll gewebter Tuchballen einst der ganze Stolz einer Bäuerin. Foto: MuseumPasseier.
Das Wort Hechel leitet sich vom selben Wortstamm wie Haken ab, welche auf die zum Kämmen der Fasern angebrachten Haken bzw. Eisennägel hindeutet. Anderswo ist der Hechler oder Hechelmann auch ein Berufsname.
Die Hachl als Marterinstrument. Auch dafür wurde dieses Arbeitsgerät verwendet. Der heilige Blasius von Sebaste wurde unter anderem mit der Hechel gefoltert und hat 316 n. Chr. das Martyrium erlitten. Weniger körperlich schmerzhaft aber ebenso unangenehm ist es, wenn man von jemandem sprichwörtlich durchkhachlt wird, wie von Franz Lanthaler in seinem Artikel „Spuren der Vergangenheit in der Sprache“ beschrieben.
Mit der Hachl haben auch wir uns auf die Suche nach Spuren der Vergangenheit gemacht, längst Vergessenes wieder aufleben lassen und sind dabei selbst gar manches Mal ins Hecheln gekommen.
Sogar das Zählen war eine haarige Angelegenheit: Weit über 100 Eisenstifte besitzt eine Hachl für den Hoor. Video: MuseumPasseier
Wer hat eine Hachl daheim? Oder kennt Passeirer Geschichten zur Flachsverarbeitung?
Wir freuen uns auf einen Kommentar oder eine Nachricht!
Liegengebliebenes
Die Geschichte von Berta Ebner, die mehr einstecken musste, als eine Bombe an ihrem Lebensende.
Das Puppenhaus der Berta Ebner fehlt, doch der Inhalt ist noch da. Viele werden wehmütig, wenn sie sich für die Zukunft eine Kohlstatt ohne Doktorhaus vorstellen müssen. Foto: MuseumPasseier.
Die Geschichte von Berta Ebner, die mehr einzustecken hatte, als eine Bombe an ihrem Lebensende.
Von Judith Schwarz
Die Tage nach Neujahr sind eigentlich Tage für Liegengebliebenes. Früher galt nämlich: Man kann sich “zwischen den Jahren” bis Dreikönig Zeit lassen für Dinge, die man im alten Jahr erledigen wollte. Für diesen Blogartikel über Berta Ebner, den ich vorhatte 2022 zu schreiben, ist der Zug also noch nicht abgefahren. Stay tuned!, sag ich mir seit Silvester, diese liegengebliebenen Zeilen dürfen getrost jetzt erst erscheinen.
Es begann im nunmehr vorjährigen Sommer. Ich hörte von der Historikerin Monika Mader zum ersten Mal von “Le strage di Bologna”, dem Anschlag von 1980 am Zugbahnhof von Bologna. In einem abgestellten Koffer im Wartesaal war eine Zeitbombe explodiert. Und ich hörte zum ersten Mal, dass auch eine ledige Passeirerin an jenem 2. August um 10:25 Uhr auf einen Zug gewartet hatte. Um inmitten der Explosion, die vermutlich Neofaschisten zu verantworten hatten, zu sterben.
Sollte ich über diese Frau schreiben? Berta Ebner war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Ihr Leben möglicherweise bis zu jenem 2. August 1980 friedlich und unauffällig verlaufen. Ihre Eltern und Geschwister nicht mehr am Leben, ihr Nachlass nach über 40 Jahren höchstwahrscheinlich verschollen.
Trotzdem begann ich zu suchen: Warum war Berta Ebner, die Tochter des Gemeindearztes von St. Leonhard, an jenem Tag in Bologna gewesen? Wer war diese Arztfamilie, die in einer Jugendstil-Villa im Dorf gelebt hatte? Können sich die älteren Passeirer*innen noch an die “explodierte” Arzttochter erinnern?
Das 120 Jahre alte Doktorhaus der Familie Ebner mit südseitigem Balkon, zierlichen Holzbögen und filigranem Gusseisengeländer ist im Passeier ein einmaliges Beispiel für den Architekturstil der Belle Époque. Foto: Monika Mader.
Berta Ebner war so unauffällig, dass es auffällig ist. In den Zeitungsberichten zum Bomben-Attentat finden sich immer wieder dieselben Informationen: Die Verstorbene aus St. Leonhard in Passeier war 50 Jahre alt, ledig, Hausfrau, führte ein zurückgezogenes Leben, pflegte ihre 84-jährige Mutter, war zufällig auf Italienreise gewesen. Ihr Passfoto taucht auf einigen Websites auf, welche die Erinnerung an die 85 Todesopfer des Anschlages wachhalten wollen und dazu jährlich am 2. August Gedenk-Aktionen starten.
Im Sommer 2022 wurden symbolische Koffer als Mahnrufe zur Erinnerung an das Bombenattentat von 1980 verschickt. Da Berta Ebner ledig verstorben war, strandete “ihr” Koffer in der Gemeinde St. Leonhard in Passeier. Und wurde zum Weckruf für Recherchen für das MuseumPasseier. Foto: Fabian Pfeifer.
Um zu erinnern, muss man wissen. Je weniger Kenntnis wir über Berta Ebner haben, umso schneller wird ihr Leben ein leeres Blatt Papier werden. Das Schwarz-Weiß-Foto von Berta bunt zu bemalen und in einem weiß gestrichenen Koffer von Bologna nach Passeier zu schicken, wird das nur bedingt verhindern. So dachte ich, als ich im Sommer von der jüngsten Erinnerungs-Aktion “A destino” hörte. Nun, ein halbes Jahr später, zeigt sich: Der symbolische Koffer hat nicht nur still vor sich hin gemahnt. Er ist zum Auslöser geworden, um weitere Spuren zu Berta Ebner zu suchen.
Wo sucht man am besten nach Ebners? Natürlich in Zeitungen. Und tatsächlich taucht Berta Ebner bereits vor ihrem tragischen Tod in Bologna 1980 in einem Bericht in den Dolomiten auf, nämlich 1958 in Sorrent bei Neapel. Als 28-jährige Frau hatte sie dort – aus welchen Gründen auch immer – ihr Gedächtnis verloren! Laut Zeitungsnachricht war sie verwirrt, aber unverletzt – und man fand weder bei der Polizei noch im Krankenhaus Näheres heraus: “Mutter und Schwester kamen nach Neapel, doch konnte sich Berta Ebner an sie nicht ‘erinnern’ und auch jegliches Zureden war umsonst. Sie tat, als ob Mutter und Schwester ihr vollkommen unbekannte Leute wären.” Also “[…] kehrten Mutter und Schwester mit Berta nach Sankt Leonhard zurück und die Aerzte hoffen, daß das arme Mädchen in ihrer gewohnten Umgebung die Erinnerungsgabe wieder erhalten werde.”
Berta mit weißer Strickjacke und ernstem Gesicht im Kreis ihrer Familie. Mit 28 Jahren erleidet sie in Süditalien einen Gedächtnisverlust, das Foto könnte kurz vor oder nach dieser Zeit entstanden sein. Aus: Nachlass der Familie Ebner, Foto: MuseumPasseier, Fotograf: unbekannt.
Ein ruhiges und unauffälliges Leben? Davon bekommt man keine Amnesie. Eher von traumatischen Erlebnissen, von Unfällen, Stress oder Schock. Wir wissen nicht, ob oder wann Bertas Erinnerungen zurückgekehrt sind. Oder wie in der Passeirer Arztfamilie mit dem Gedächtnisverlust umgegangen wurde. Und vor allem was ihn ausgelöst hat. Auch wenn der Zeitungsbericht dazu schweigt, in einem Dorf wird immer geredet. “Berta hat studiert gehabt und hatte irgendwann ein Kind, das haben ihr die Eltern aber genommen, weil es ein “Italienerkind” war. Man hat nie gehört, ob Mädchen oder Bub und wo das Kind überhaupt ist", erzählen ehemalige Nachbarn der Ebners.
Möglich wär es schon. Dass Bertas Amnesie in Süditalien eine Schockreaktion auf ein Ereignis war, das mit ihrer Schwangerschaft oder mit der Wegnahme ihres Babys zu tun hatte. Für die Einheimischen ist klar: “Man hat ihr das Kind genommen, und dann ist die Berta übergeschnappt. Da hat es dann Probleme gegeben, dass sie zum Beispiel im Unterrock umhergegangen ist und so.”
Umgekehrt wäre es auch denkbar. Zumindest solange wir keine Angaben zum Geburtsdatum des Kindes haben (im Grunde haben wir nicht mal gesicherte Angaben zur Existenz des Kindes). Was, wenn Berta erst in Folge ihres Blackouts “Probleme” gemacht hat und eines dieser Probleme die Schwangerschaft war? Die Geburt des Kindes, irgendwo auswärts, soll in den 60er Jahren gewesen sein, als Berta rund 30 Jahre alt war, glauben Leute im Dorf zu wissen. Ganz genau können sie ihre Erinnerungen allerdings auch nicht abrufen.
Also vielleicht doch Nachkommen! Das (vermutete) Kind könnte heute zwischen 60 Jahre alt und älter sein und irgendwo in Italien leben. Berta soll gerne Italienreisen unternommen haben, wird in den Zeitungsberichten zu ihrem Tod betont. Was, wenn diese Reisen in irgendeiner Weise mit ihrem Kind zusammenhingen? Was, wenn das “Italienerkind” der Grund gewesen ist, warum Berta am 2. August 1980 am Bahnhof in Bologna auf einen Zug gewartet hat?
Im Dorf wurde gemunkelt. “Die Leute haben immer spekuliert, dass Bertas Bruder das Kind nach Deutschland mitgenommen hat”. Aber Bertas älterer Bruder Romed (1923–2011), zum Zeitpunkt der Amnesie bereits Arzt wie sein Vater, heiratete eine Biologin und gründete vor seinem Tod eine Stiftung zur Unterstützung von Medizinstudent*innen, in die sein Vermögen floss. Von einem Kind keine Spur. Bertas jüngere Schwester Elisabeth (1933–2015) hingegen war ab 1962 verheiratet, mit einem Arzt, und hatte einen Sohn.
Und Berta als Jugendliche? Sie scheint bereits als junge Frau gegen Korsette rebelliert zu haben. Über ihre Zeit als Studentin (wahrscheinlich der Pharmazie) und das Maturajahr 1949 am wissenschaftlichen Lyzeum in Brixen ist wenig bekannt. Mit 13 Jahren war sie jedoch im 360km entfernten Bregenz in Österreich im Internat untergebracht. Die dortige staatliche Oberschule für Mädchen und das Schülerinnenheim “Marienberg” liegen in der Nähe von Heimertingen, der Heimatstadt ihrer Mutter Berta Ebner geb. Schneider (1895–1980). Berta schreibt pampige Briefe über ihre Mitschülerinnen (“zwiedere Pfotten”) und das Essen (“Fetter kann man hier auch nicht werden”). Die Internatsleitung klagt, Berta sei nicht willens, sich einzufügen.
Ein lebensfrohes Kind, wie es alle anderen sind. Das solle mit ihrer Hilfe aus Berta werden, sendet die Heimleiterin nach Passeier und fügt – wir haben das Jahr 1943 – “Heil Hitler!” hinzu. Eine schwierige Aufgabe, da Berta stets als “sehr verschlossen” beschrieben wird. Vielleicht hatte sie es bereits in ihrer Grundschulzeit in St. Leonhard schwer, Anschluss zu finden – als bürgerliche Tochter eines Arztes und einer Reichsdeutschen. Bertas Lebensfreude zu wecken scheint dem Bregenzer Internat jedenfalls nicht gelungen zu sein: Berta wechselt die Schule und schließt das Schuljahr 1943/44 an der Mädchenoberschule St. Christina in Gröden ab. Im Jahreszeugnis ist zu lesen: Verschließt sich scheu den Kameradinnen.
Das Ehepaar Ebner posiert um 1925 mit seinen Kindern Berta und Romed. Auf dem unteren Foto die selbe Szene, etwa fünf Jahre später: Die erstgeborene Berta ist inzwischen verstorben, Romed zum Schulkind gewachsen und die “nächste Berta” dazugekommen. Aus: Nachlass der Familie Ebner, Foto: MuseumPasseier, der/die Fotograf/en ist/sind unbekannt.
Bertas Distanziertheit hat vielleicht auch andere Gründe. Berta ist nämlich nicht die erste Berta, sondern die zweite. 1921 bekommen Berta Schneider und ihr Gatte Romedius Ebner ihr erstes Töchterchen Berta, zwei Jahre später den schon erwähnten Sohn Romed. Am 12. Mai 1929 feiert das achtjährige Mädchen ihre Heilige Erstkommunion, zwei Tage später stirbt sie plötzlich. “Die Berta hat auf dem Bichl oben Wasser getrunken. Und man hat immer gesagt, sie hat eine ‘Iifer’ (Fadenwurm) getrunken und ist daran gestorben. Das ist sehr schnell gegangen.” Für eine Familie, die einen Arzt im Haus hat, ist dieser Tod doppelt schwer zu schlucken. Knappe neun Monate später kommt Berta auf die Welt.
Auf dem Dachboden des Doktorhauses lagern noch die Druckplatte der Sterbebildchen für “unser liebes Kind Berta Ebner, Arztenstöchterlein” und etliche Exemplare nicht verteilter Sterbebilder. Aus: Nachlass der Familie Ebner, Foto: MuseumPasseier.
Ein 8-jähriges Kind plötzlich zu verlieren bedeutet Familienkrise. Zumal in einem bürgerlichen, konservativen Kreis, in dem man bedrückende Lebensumstände lieber unter den Teppich kehrt, als unglücklich aufzufallen. “Die Frau Doktor hat viel gefragt, aber umgekehrt hat man über sie nie etwas erfahren.” Nichtsdestotrotz, dass die “alte Ebnerin” ihren Mann und Passeier hat verlassen wollen, weiß man sich in St. Leonhard heute noch zu erzählen. Und auch, wie sie beim Ausbrechenwollen blamiert zurückruderte, als ihr Mann beim Kofferpacken half. Berta erlebt eine Mutter, die im Tal wenig beliebt und unglücklich ist. Die Frau Doktor, die hochdeutsch gesprochen hat, galt als geizig, pingelig und äußerst streng. War andererseits aber selbst in einem gestrengen, abgehobenen Milieu gefangen.
“Der Doktor Ebner ist ganz ein Angenehmer gewesen, die Leute haben ihn sehr geschätzt. Er war ruhig, ausgeglichen, sehr loyal. Schlimmer ist seine Frau gewesen, aber das könnt ihr nicht schreiben.” Berta Schneider (1895–1980) und Romedius Ebner (1886–1967) als junges Paar. Aus: Nachlass der Familie Ebner, Foto: MuseumPasseier.
Ein Leben mit ihren Eltern. Als der Bruder als Arzt Karriere in Deutschland macht und die Schwester einen Arzt heiratet und fortzieht, bleibt Berta der Part der ledigen Tochter, die sich um die alternden Eltern kümmert. Vielleicht waren ihre Italienreisen auch eine Flucht vor dem Leben im Elternhaus in St. Leonhard?
Mutter und Tochter leben sehr zurückgezogen. Erst recht nachdem 1967 Bertas Vater 81-jährig verstorben ist. Als dann im August 1980 Berta in Bologna ums Leben kommt und wenige Monate später ihre Mutter an Herzinfarkt und Lungenentzündung stirbt, bleibt das Bürgerhaus der Ebners am westlichen Ortrand von St. Leonhard leer zurück. Vier Jahrzehnte und einen Besitzerwechsel mit Renovierungsplänen später steht es nun vor dem Abriss. Im November 2022 machten Monika Mader und ich einen Hausbesuch. Und fanden in der Doktorvilla so etwas wie Berta Ebners Chance, nicht vergessen zu werden.
Von wegen verschollener Nachlass! Unmengen von Schulheften, Studiennotizen, Unibüchern. Gemälde von unbekannten Vorfahren. Zu Paketen geschnürte Briefe. Kisten voller Fotos von Urlaubsreisen. Spielsachen der verstorbenen Schwester. Arztbesteck. Praxisschilder. Traueranzeigen. Zeugnisse. Ein Röntgenbild. Ein Herbarium. Ein Kinderbett. Bertas Geschwister Romed und Liesl hatten wohl keine Verwendung für die Habseligkeiten. So sind sie über eine Zeit von über 40 Jahren liegen geblieben.
Das Liegengebliebene seinerseits wird seine Zeit brauchen. Um gesichtet, erkannt oder verkannt zu werden. Um geordnet oder durcheinander gebracht zu werden. Oder um liegen zu bleiben. Stay tuned!
Du hast weitere Informationen oder Quellen zu Berta Ebner und ihrer Familie?
Bitte lass sie nicht liegen, sondern schick sie uns oder erzähl uns davon!
Giovanni Falcone e il mare
A trent’anni dall’assassinio di Giovanni Falcone, il Museo ospita tre oggetti personali del “cacciatore di mafiosi”,
Quello che molti non sanno: Il famoso “cacciatore di mafiosi” Giovanni Falcone sognava da giovane una carriera in marina. Foto: MuseoPassiria
A trent’anni dall’assassinio di Giovanni Falcone, il “cacciatore di mafiosi”, il Museo ospita alcuni oggetti personali appartenuti al magistrato per la mostra “Eroi & Noi”. Gli oggetti sono stati messi a disposizione dalla Fondazione Falcone di Palermo.
Di Josef Rohrer
Nel 1957 all’età di 18 anni Giovanni Falcone entrò all’Accademia navale di Livorno. Avrebbe potuto intraprendere una carriera nella Marina italiana. Ma poco tempo dopo abbandonò l’Accademia, iniziò gli studi di Giurisprudenza, divenne giudice istruttore e in seguito membro di un’unità speciale di giustizia contro la mafia a Palermo. Nei primi anni Ottanta mediante verifiche bancarie fu in grado di mettere in luce gli stretti collegamenti tra Cosa Nostra in Sicilia e la mafia negli Stati Uniti.
Fu ripetutamente minacciato, sia politici sia elementi dell’apparato giudiziario cercarono di ostacolare il suo lavoro. Il Pool Antimafia, del quale faceva parte oltre a Falcone tra gli altri anche Paolo Borsellino, riuscì tuttavia a indebolire la mafia giungendo a celebrare un maxiprocesso. La mafia si vendicò a modo suo: nel maggio 1992 fece esplodere una bomba sull’autostrada nei pressi di Palermo. Falcone, la moglie e tre agenti della scorta morirono nell’attentato. Due mesi più tardi nel centro di Palermo la mafia assassinò anche Borsellino e i cinque agenti che erano con lui.
La sorella di Falcone, Maria, ha istituito una Fondazione allo scopo di tenere vivo il ricordo della coraggiosa lotta di Falcone contro la mafia. Su richiesta del MuseoPassiria la Fondazione mette ora a disposizione per la sezione espositiva “Eroi & noi” il berretto bianco con la scritta “Accademia navale” indossato da Falcone a Livorno, insieme al suo tesserino di riconoscimento: entrambi gli oggetti personali risalgono all’epoca “dei sogni”, come scrive Alessandro de Lisi della Fondazione, quando Falcone poteva ancora imprimere alla sua esistenza un percorso diverso.
attraverso l’esposizione di alcuni oggetti selezionati. In mostra sono presenti tra gli altri cimeli del Dalai Lama, di Monika Hauser, fondatrice dell’organizzazione umanitaria Medica Mondiale, e del vescovo Erwin Kräutler, che nonostante le minacce di morte combatté per i diritti degli Indios in Brasile.
Tre oggetti personali del più famoso cacciatore di mafiosi della storia italiana sono ora esposti al MuseoPassiria. Foto: MuseoPassiria
La sezione “Eroi & noi” del MuseoPassiria è dedicata al tema di come vengono visti oggi eroi, star e idoli.
Der Mafiajäger und das Meer
30 Jahre nach dem Mord an Giovanni Falcone bekommen wir persönliche Objekte des berühmten Mafiajägers.
Was viele nicht wissen: Der berühmte Mafiajäger Giovanni Falcone träumte in jungen Jahren von einer Karriere bei der Marine.
30 Jahre nach dem Mord am bekanntesten Mafiajäger der italienischen Geschichte bekommt das MuseumPasseier persönliche Objekte von Giovanni Falcone. Zur Verfügung gestellt hat sie die Falcone-Stiftung in Palermo.
Von Josef Rohrer
Giovanni Falcone war 1957 als 18-Jähriger in die Marineakademie von Livorno eingetreten. Er hätte in der italienischen Marine Karriere machen können. Aber er verließ die Akademie nach kurzer Zeit, studierte Jura und wurde Untersuchungsrichter in Trapani und später Mitglied einer Sondereinheit der Justiz gegen die Mafia in Palermo. In den frühen 1980ern legte er über die Auswertung von Banküberweisungen enge Verbindungen zwischen der Cosa Nostra in Sizilien und der Mafia in den USA offen.
Er erhielt häufig Drohungen. Politiker und auch Teile des Justizapparates versuchten, ihn in seiner Arbeit zu behindern. Dennoch gelang dem sogenannten Pool Antimafia, dem neben Falcone unter anderem auch Paolo Borsellino angehörte, mit einem großen Prozess eine Schwächung der Mafia. Sie rächte sich auf ihre Weise: Im Mai 1992 explodierte auf der Autobahn bei Palermo eine Bombe. Falcone, seine Frau und drei Leibwächter starben. Zwei Monate später ermordete die Mafia mitten in Palermo auch Borsellino und fünf seiner Begleiter.
Falcones Schwester Maria gründete eine Stiftung. Die Erinnerung an Falcones mutigen Kampf gegen die Mafia sollte wachgehalten werden. Auf Anfrage des MuseumPasseier stellte die Stiftung für die Ausstellung „Helden & Wir“ jetzt die weiße Kappe mit der Aufschrift „Accademia navale“ zur Verfügung, die Falcone in Livorno getragen hatte, sowie seine Kennkarte: Persönliche Objekte aus einer Zeit „der Träume“, wie Alessandro de Lisi von der Stiftung schreibt, als Falcone seinem Leben noch eine andere Richtung hätte geben können.
“Die ausgewählten Objekte für das MuseumPasseier sind drei Zeugnisse einer andauernden Leidenschaft für das Meer, einer Ära der Träume und einer grundlegenden Zeit der Ausbildung dieses heute historisch berühmten Richters Giovanni Falcone”, schreibt die Stiftung Falcone. Foto: MuseumPasseier
Die Ausstellung „Helden & Wir“ handelt davon, wie Held*innen, Stars und Vorbilder heute gesehen werden.
Einen Schlern, bitte!
Über eine schrecklich große Familie.
Fotos: MuseumPasseier
Über eine schrecklich große Familie.
Von MuseumPasseier
In einem Tal wie Passeier spielt die heilige Eucharistie seit jeher eine zentrale Rolle im religiösen Leben. Der Mittelpunkt des christlichen Glaubens ist die Hostie, die in der Heiligen Messe den Leib Christi symbolisiert. Früher backte jede Pfarrgemeinde die Hostien selbst, was Geschick, Geduld und Ehrfurcht erforderte.
Schwester Annunziata Maria ist seit ihrem 23. Lebensjahr eine Klosterfrau der Barmherzigen Schwestern des Hl. Vinzenz von Paul in Zams bei Landeck. Seit 1970 ist sie die im Dorf bekannte „Schwester Oberin“ im Altersheim St. Benedikt in St. Martin in Passeier. Zuvor arbeitete sie dort von 1958 bis 1960 als Krankenpflegerin.
Was fehlt, was ist doppelt? Der Sammler Florian Pichler hatte irgendwann alle Nummern auf seiner Liste durchgestrichen, heute befinden sich seine 812 Ausgaben der Zeitschrift „DER SCHLERN“ im MuseumPasseier. Foto: MuseumPasseier
Was man nicht im Tausch bekam, wurde anders aufgespürt. Es waren entweder glückliche Einzeltreffer aus Privathaushalten, oder – sehr begehrt – mehrere Ausgaben in Bibliotheken. So hat Florian Pichler einige Exemplare von ehemaligen Meraner Hotelbesitzer*innen erworben, die ihren Betrieb geschlossen und in Folge auch ihre Gästebibliothek verkauft haben.
Einige Vorbesitzer*innen hängen an ihren Heften. Nicht nur emotional, sondern wortwörtlich. Als Buchbesitzerkarte, meist ein Holzdruck, kleben in einigen Ausgaben sogenannte Ex-Libris auf der ersten Innenseite, so etwa von Bruno Pokorny (1941-2014). Das Ex-Libris “DÖS G`HEART MIR” von Sammler Florian Pichler ist natürlich auch immer wieder zu finden, schon allein der Ordnung halber.
Ordentlich ist auch, was danach kam: Aus 12 mach 1. Die meisten Sammler*innen ließen, sobald sie alle zwölf Hefte eines Jahrganges beisammen hatten, diese als Buch binden. Pichlers Reihe besteht aus 71 dicken Bänden in hellem Leinen. Wer jetzt nachrechnet: Die Jahrgänge von 1920 bis 1997 ergeben 78 Bände, und nicht 71. Die fehlenden sieben Bände sind die Jahrgänge 1939 bis 1945. In diesen Jahren des Nationalsozialismus war anfangs DER SCHLERN in DER SCILIAR umbenannt und danach das Erscheinen der Zeitschrift verboten und der Druck eingestellt worden. Erst 1946 erließ die alliierte Verwaltung wieder eine Druckerlaubnis.
Und was macht man, wenn man alle Hefte beisammen und gebunden hat? Dann, so erzählt Florian Pichler, habe er ein Fest mit befreundeten Schlernsammler*innen gefeiert. Irgendwie erfreute er sich nämlich nicht nur an der Gesamtheit der Schlernhefte als sogenannte „Schlernfamilie“, sondern er hatte auch die dazugehörigen Sammler*innen ins Herz geschlossen.
Du brauchst ein PDF eines Schlern-Artikels? Schreib uns!
Süßsaure Geschichten
Wir haben in das Thema Apfel gebissen.
Streuobstwiese mit Apfelbäumen beim Weiherhof in Breiteben, Gemeinde St. Martin in Passeier. Foto: Judith Schwarz für MuseumPasseier
Wir haben in das Thema Apfel gebissen.
Von MuseumPasseier
“Irgendwann werden die alten Apfelbäume verschwunden sein!”: Diese Aussage von Adolf Höllrigl, der im Museum zu einem Interview über Zullen geladen war, brachte uns zum Nachdenken. Denn bei alten Dingen, die verschwinden, hören und schauen Museen ja meist genauer hin. Allerdings können wir die noch erhaltenen Passeirer Streuobstwiesen mit den knorrigen Bäumen nicht museumsgerecht im Depot konservieren. Doch wir können sie fotografieren und für deren Erhalt sensibilisieren. Oder auch anregen, wieder vermehrt alte Sorten als Hochstämme zu pflanzen.
Also haben wir in das süß-saure Thema Apfel gebissen. Süß, weil es spannend und wertvoll ist. Sauer, weil es keine Passeirer Literatur oder Erhebung dazu gibt. Um die geschichtliche und heutige Situation der Apfelbäume in Passeier zum Museumsthema zu machen, haben wir der Volkshochschule Südtirol einen Vortrag vorgeschlagen. Und uns gemeinsam mit den Referenten Adolf Höllrigl und Wolfgang Drahorad auf die Suche nach historischen und gegenwärtigen Passeirer Äpfeln gemacht.
Wie viel Apfelgeschichte gibt die Passeirer Geschichte her? Dass es keine umfassende Dokumentation werden konnte, war klar. Aber auch einige kleine Apfelschnitz können reichen, um auf den Geschmack zu kommen. Apfelbäume gehörten einst zu fast jeder Hofstelle oder jedem Pfarrhaus – dennoch schweigen die älteren Quellen zu Apfelsorten und Apfelanbau in Passeier. Vereinzelt findet man in Verfachbüchern allgemeine Erwähnungen wie Baumgarten, Obis anngerle usw. Und höchstens fallen einem noch die Passeirer Kraxenträger ein, die verschiedene Obstsorten transportierten und verkauften. Allerdings hat von denen natürlich keiner Buch geführt.
Interessant wird es in den 1830er Jahren: Johann Jakob Pöll (1781–1848) war ein vom Pöllhof in Ulfas gebürtiger Priester, der alle möglichen Dinge auf die Beine stellte: Als Lehrer und Direktor an einer Stadtschule in Bozen gründete er eine Bibliothek, errichtete eine Industrieschule für Mädchen, unterrichtete Taubstumme, sammelte Münzen und züchtete Obstbäume. Seine apfelkundlichen Beobachtungen hielt er in Texten und Zeichnungen fest und gab dazu 1831 im Eigenverlag ein Buch zur Pomologie mit zahlreichen Holzschnitten heraus. Es gilt heute als das früheste Südtiroler Buch über Obstbaumzucht. Dass es keine Passeirer Apfel-Literatur gibt, ist also zu revidieren: Ein Passeirer hat literarisch Obstbaugeschichte geschrieben!
Titelblatt und Innenseite der frühesten Südtiroler Publikation über Obstbaumzucht, geschrieben von Johann Jakob Pöll aus Ulfas in Moos in Passeier. © tessmann.it
Was bedeutete Pölls Pomologie-Buch für Passeier? 33 Jahre nach Erscheinen von Pölls “Anleitung zur Obstbaumzucht” und damit auch lange nach Pölls Tod, kam es in St. Martin zur ersten landwirtschaftlichen Vereinsversammlung. Zum Obmann gewählt wurde der Dorfarzt Johann Hillebrand (1812–1886) und unter den ersten gefassten Beschlüssen findet sich auch „die Hebung der Obstzucht“. Was dieser Beschluss in der Obstbaumszene bewirkt hat, konnten wir nicht feststellen.
1924 dann ein Highlight in Bezug auf die Passeirer Obstgeschichte: Im Frühjahr hatte die landwirtschaftliche Bezirksgenossenschaft in St. Leonhard einen Obstbaukurs organisiert, im Herbst wurde dann sozusagen geerntet. Im Speisesaal des “Passeirerhof” fand eine viertägige Obstsortenschau samt Vorträgen mit Begehungen statt. An dieser ersten Sortenschau haben 32 Obstzüchter aus Passeier teilgenommen, die insgesamt – man lese und staune – 48 Apfelsorten präsentierten.
Das Erinnerungsfoto zum Obstbaukurs in St. Leonhard stammt aus der Sammlung Alfons Schenk, der Fotograf ist unbekannt. © MuseumPasseier
48 Apfelsorten aus Passeier, die wären heute nicht auffindbar. Die Schau, die in den lokalen Zeitungen besonders erwähnt wird, war zur damaligen Zeit eine Besonderheit. Der Schreiber der Bozner Nachrichten beendet den Artikel mit dem Aufruf: „Andere Täler, nehmt euch ein Beispiel!“ Unter den Ausstellern waren unter anderem (aus St. Martin) der Kaufmann Alfons Schenk, (aus St. Leonhard) der Kaufmann Johann Delucca, Anton Fauner von Happerg, Leonhard Kofler von Unterzögg, Franz Hofer von Wiedersicht-Felsenegg, Josef Bacher vom Straußengütl, der Pfarrwidum, Josef Halbeisen vom Krustnerhof, Josef Gufler von Buchenegg, (aus Moos) Josef Pamer von Magfeld, der Platterwirt Johann Hofer, Georg Öttl von Obermagfeld, Josef Raffl aus Stuls.
In dieser Zeit überrascht auch außerhalb des Tales ein Passeirer als Fachmann: Rudolf Schiefer (1880-1970) aus St. Leonhard. Kurioserweise schaffte er es als lediger Bub, der nach dem frühen Tod seiner Mutter in armen Verhältnissen und auf verschiedenen Höfen aufgewachsen war, an die renommierte Landwirtschaftsschule San Michele all`Adige, die zu der Zeit hauptsächlich Gutsbesitzern- und Adelssöhnen vorbehalten war. Ab 1908 war er selbst als Lehrer an der Schule tätig und forschte über landwirtschaftliche Anbaumethoden – für Obst und vor allem für Reben. Nebenbei war er ständig als Wanderlehrer auf Achse und auch viel im Passeier unterwegs. Älteren Generationen ist er noch als „der alte Schiefer“ oder „Schnitzer Ruudl“ bekannt.
Schiefer Rudolf (im hellen Mantel) mit seinen Schülern des Rebveredlungskurses und Lehrerkollegen im Weininstitut San Michele (ca. 1930). Foto: Sonja Schiefer
Und wer sticht unter den frühen kommerziellen Passeirer Apfelbauern hervor? Ein jüngeres Beispiel für einen Passeirer, der immer wieder in Zusammenhang mit Obstbau auftaucht, ist Anton Fauner (1875–1955), Bauer auf Happerg in St. Leonhard. 1905 verpachtete er dem k.k. Arär, also dem Staat, 799 m² Ackergrund zur Anlage und zum Betrieb einer Baumschule. Unter seinen Unterlagen, die die Familie verwahrt, finden sich noch Aufzeichnungen, ein Arbeitsbüchl und auch Schreiben der C.A.F.A. (Cooperativa Anonima Frutticoltori Alto-Atesini Merano), die 1933 gegründet worden war und der im Laufe der Zeit etliche Passeirer Bauern wie Anton Fauner beigetreten waren. Sein Enkel Reiner Fauner erinnert sich noch an den Pflanzgarten und die Äpfel seiner Kindheit:
Zu Hause hatten wir jeden Tag Kompott. Aber den hatten wir auch gerne. Strudel hat die Mutter viel gemacht, da nahm sie hauptsächlich die Kanada und auch für den Kompott. Bratäpfel und Most hat es auch gegeben.
Zur Pause in der Schule hatten wir immer einen Apfel mit. Ich hab selbst oft gestaunt, weil die Äpfel haben wir nie genug mitgetragen in die Schule, denn alle wollten mit uns ihr Pausenbrot mit den Äpfeln tauschen. Die einen waren um die Äpfel froh und wir hatten ihre Brote gerne.
Wir haben als Kinder immer gepflückt. Wir sind am Morgen pflücken gegangen anstelle des Kirchengangs vor der Schule, haben eine Stunde gepflückt, sind dann Schule gegangen, nach Hause zum Mittagessen, dann ist wieder gepflückt worden. Wir waren nur alleine als Kinder. Wir hätten auch lieber etwas anderes getan, konnten aber auch nichts andres tun, denn diese Arbeit war zu verrichten.
Den Arbeitsschritt, wie das Auszupfen, wie man es heute im Frühjahr macht, gab es damals nicht. Im Herbst wurde gepflückt, im Sommer manchmal gespritzt. Der Vater hat Schläuche angerichtet, die wir nachziehen mussten. Er hat es so angerichtet, dass oberhalb des Hauses eine Rease (Wasserteich) war. Da hat er das Spritzen angerichtet, also eine Pumpe und mit den Leitungen zum Herumleiten.
Anton Fauner (1875–1955), Bauer auf Happerg in St. Leonhard, inmitten seiner Obstbäume. Foto: Gregor Fauner
Im undatierten Arbeitsbüchl erwähnt Anton Fauer (1875–1955), auch Arbeiten an den Obstbäumen. Der Kalender befindet sich im Besitz der Familie Ingo Fauner. Foto: MuseumPasseier
Alte Sorten hatten wir hauptsächlich Goldparmän und Kalterer. Die Sortennamen haben wir alle gekannt. Edelrote sind vor dem Haus zwei, drei Bäume gestanden, einige ziemlich große und ein paar Kanada auch. Die Boscoop waren gute, ein bisschen säuerlich aber eher spätere. Zum Kompott machen sind sie supergut gewesen. Von den Grafensteinern hatten wir auch zwei Bäume.
Der Vater wollte das Geschäft mit den Äpfeln groß aufziehen, doch einige Jahre waren die Äpfel fast gar nichts wert. Er hat zu uns gesagt, dass er uns für die Arbeit mit den Äpfeln keinen Lohn geben kann, gescheiter sollen wir einer Arbeit nachgehen. Er hat dann entschieden, dass er den Anger planieren will und hat fast alle Apfelbäume herausgeschnitten, dann kam die Firma Peer von Latsch und hat alles angeebnet.
Der Ëpflpåtsch, das sind die ausgepressten Äpfel, der kam erst später auf, den hat man bei der C.A.F.A. oder beim Zipperle gekauft, um das Vieh zu füttern: Äpfel aufschneiden und dann pressen und was davon übrigblieb, war der „Ëpflpåtsch“. Den hat dann das Rindvieh als Futter bekommen.
Und der „Ëpflpåtsch“ ist dann meinem Vater und meinem Bruder Gernot zum Verhängnis geworden. Und auch nur weil kein Mensch eine Ahnung gehabt hat, denn auf dem Apfelsilo drauf ist die Gebläsehechsel gestanden, lässt man die an, ist die Luft sauber. Das war dann eben auch der Zufall, dass der Schneider Albert eine Ladung „Ëpflpåtsch“ gebracht hat und er gesagt hat, dass er nochmal kommen wird und hat die Luke offenlassen. Er wollte dann erst wieder am nächsten Tag kommen. Wenn die Luke zu gewesen wäre, wäre mein Bruder erstens nicht runtergesprungen und mein Vater nach um ihn zu retten, und zweitens hätten sich nicht diese Gase gebildet. Das sind eben immer diese Zufälle.
Ich war nicht zu Hause, ich glaube ich war im Dorf, da war ein Markt. Mich hat „der Spitaler“ angesprochen. Ich solle nach Hause gehen, zu Hause ist etwas passiert. Ich habe gefragt was los ist, er sagte „Einer ist in den Silo gefallen“ und ich hab kaltschnäuzig zur Antwort gegeben: „Dann wird er wohl wieder raufgehen!“. Als ich dann nach Hause gekommen bin, habe ich schon gesehen, was passiert ist. Bis die Feuerwehr mit Atemschutzgeräten gekommen ist, hat es zu lange gedauert. Fünf bis zehn Minuten hat man Zeit, sonst ist das Hirn kaputt. Zu leiden haben sie nicht gehabt, das geht schnell. Der Silo ist auch falsch gebaut gewesen. Er ist 6 Meter tief gewesen und ohne Luftloch. Danach haben sie dann, wenn neue Apfelsilos gebaut worden sind, überall Luftlöcher eingebaut.
Wir danken Reiner Fauner fürs Erzählen seiner Familiengeschichten, in denen Äpfel gute und auch traurige Rollen spielen. Gerne veröffentlichen wir hier weitere Passeirer Apfelgeschichten, schreib deine einfach in die Kommentare oder schick eine Mail an info@museum.passeier.it
Eine moderne Chronik
Je mehr mitmachen, desto mehr entsteht!
© design.buero
Je mehr mitmachen, desto mehr entsteht.
Von MuseumPasseier
Was wäre, wenn ein Dorf eine Chronik plant, die alle Buchseiten und Gemeindegrenzen sprengt? An der nicht nur der Dorfchronist, ein Lehrer, ein Archäologe und eine Studentin arbeiten, sondern ALLE, die etwas zu erzählen oder zu zeigen haben? Wenn diese offene Chronik im digitalen Raum ständig wachsen würde, weil jede*r darin ergänzen, verbessern, verknüpfen, recherchieren, stöbern und spielen kann?
Wir freuen uns, Teil so einer Chronik zu sein, die derzeit mit Bildungsausschuss und Gemeinde St. Martin in Passeier entsteht. Wer sich dafür interessiert, kann gerne zu den offenen Chronik-Workshops in die lese.werk.statt St. Martin vorbeikommen.
Was die Hände wissen
In einem Masterlehrgang den Blick schärfen und öffnen für alte Räume, Materialien, Arbeitstechniken.
In einem Masterlehrgang den Blick schärfen und öffnen für alte Räume, Materialien, Arbeitstechniken.
Von MuseumPasseier
„Unterschiedliche Menschen, Materialien und Handwerke treffen und verknüpfen sich um Neues zu schaffen”, so beschreibt eine Absolventin des Masterlehrganges „Konzeptuelle Denkmalpflege“ die Ausbildung, die Hand, Kopf und Herz vereinen will. Der länderübergreifende Studiengang ist berufsbegleitend, für Menschen mit oder ohne Matura, dauert fünf Semester und läuft über die Donau-Universität Krems (A).
Schwerpunkt des Studiums ist das Praktisch-Gestalterische: Sich nachhaltig, einfühlsam und fachgerecht mit historischer Bausubstanz und handwerklichem Kulturerbe auseinandersetzen sowie Wahrnehmung, Wissen und Wirkungen in Bezug auf Materialien, Formen und handwerkliche Techniken untersuchen.
Start des Studienganges ist Winter 2022/23, die Unterrichtsorte sind die Stiftung Pro Kloster St. Johann in Müstair (CH), die BASIS Vinschgau in Schlanders und – neu seit 2022 – auch das MuseumPasseier. Zudem ist seit heuer das Landesdenkmalamt der Autonomen Provinz Bozen Südtirol offizieller Kooperationspartner.
Die Studienplätze sind auf maximal 14 Personen begrenzt. Die Webseite www.vereinkonzeptuelledenkmalpflege.it bietet einen guten Einblick in das Tun der Studierenden sowie den Kontakt für Fragen und Bewerbungsgespräche.
Andenken an die lieben Verstorbenen
Zur Geschichte der Sterbebilder.
Zur Geschichte der Sterbebilder
Von Elisa Pfitscher
Totenbild, Totenzettel, Sterbebild, Trauerbild oder auch Trauerzettel. Viele Bezeichnungen für denselben Brauch innerhalb der europäisch-katholischen Kultur. Die Verteilung von Sterbebildern, welche anfangs noch handgeschriebene Totenzettel waren, erfolgte bereits seit Mitte des 17. Jahrhunderts im Gebiet der heutigen Niederlande. Zunächst nur Wenigen vorbehalten und als aufwendige Kupferstiche produziert, erreichte die Herstellung und Verteilung von Sterbebildern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch Bayern und Tirol.
Das älteste dem Museum gehörende Sterbebild stammt aus dem Jahre 1845. © MuseumPasseier
Elisabeth Jenewein aus St. Martin starb im Juni 1845. © MuseumPasseier
Kein Geistlicher und vor allem: kein Mann! Das älteste Sterbebild aus dem Passeier, welches im Museum erhalten ist, ist einer von Lueg am Fuße des Prenners stammenden Frau, welche in St. Martin verheiratet war, gewidmet. Elisabeth Jenewein war als Gross-Tabaktraffikantin des Krämerladens wahrscheinlich keine Unbekannte im Dorf. Sie führte nach dem Ableben ihres ersten Mannes Karl Amort den Laden weiter und heiratete ein zweites Mal den aus Rabenstein gebürtigen Johann Ennemoser. 1845 verstarb sie mit 46 Jahren. Gewiss gibt es noch ältere Sterbebilder aus dem Passeier, wie jenes aus der Sammlung von Harald Haller, welches aus dem Jahre 1838 stammt und, wie das von Elisabeth Jenewein, ein umfunktioniertes, auf der Rückseite bedrucktes Andachtsbild ist. (Dorfbuch St. Leonhard in Passeier, Band 1 “Geschichte und Gegenwart” 2000, S. 351)
Ursprünglich wurden sie im Gebetsbuch aufbewahrt, um immer wieder an die Verstorbenen erinnert zu werden. Allzu oft fallen sie einem gar nicht mehr auf und gehören zum Inventar wie das Kreuz an der Wand: Die Sterbebilder findet man bei uns üblich in der Stube, in einer Ecke oder im Herrgottswinkel aufgestellt, an den Leisten des Getäfels geheftet oder um das Waichprunninkriëgl aufgereiht. Irgendwann landen sie in einem Schuhkarton, weil es im Laufe der Jahrzehnte zu viele geworden sind und aus Pietätsgründen nicht weggeworfen werden. Bei besonders nahen Menschen, welche verstorben sind, verwandelt sich jener Ort, an dem die Sterbebilder platziert sind, nicht selten zu einem kleinen Altar: Geschmückt mit Rosenkranz, Blumen, Kerzen und dergleichen bleiben die lieben Menschen ständig präsent und geraten nicht in Vergessenheit.
Der sein junges Leben für Führer, Gott und Heimat zum Opfer brachte. Der Umstand, dass in den Kriegen viele junge Männer fielen, welche nicht in ihrer Heimatgemeinde überführt und bestattet werden konnten, führte dazu, dass die Totenzettel das einzige für Familie und Bekannte waren, was an den Gefallenen oder Vermissten erinnerte. Angaben zum Rang der Männer innerhalb der Armee waren stets vorhanden. Obergefreiter und Panzerjäger Alois Gufler findet auf dem Sterbebild seiner Mutter im Jahr 1959 Platz, da er nach dem Krieg nicht mehr Heim gekommen war und seine letzte Nachricht bereits über 15 Jahre zurück lag. Auch erst nach vielen Jahren wurde der Vermissten auf einem Grabstein gedacht. Bei anderen Opfern des Krieges ist der letzte Aufenthaltsort zu lesen, sowie oft sogar der Umstand des Todes. Diese Praxis zu Zeiten des Krieges trug maßgeblich dazu bei, dass das Sterbebild auch heute noch als Erinnerungsbild dient.
Sebastian Pfitscher: Er fand den Tod an der Grenze zum heutigen Russland und nur das Sterbebild dient in der Heimat als Erinnerung. © Elisa Pfitscher/MuseumPasseier
500 Tage Ablaß, monatlich vollkommener. Anders als die Ansprache bei der Beerdigung, welche sich mit dem vergangenen Leben der verstorbenen Menschen befasst, richtete sich der Totenzettel ursprünglich an die Zeit nach dem Ableben, an das Jenseits. Der Sterbezettel war bis vor einigen Jahrzehnten mit der Bitte versehen, für das Seelenheil der Toten zu beten und mithilfe der sogenannten Ablassgebete ihnen den Weg durch das Fegefeuer zu erleichtern und zu verkürzen, welcher aufgrund der irdischen Schuld zu verrichten ist. Bis zur Reformation nach dem zweiten vatikanischen Konzil in den 1960ern, waren die Kärtchen mit diesen Ablässen zugunsten der Verstorbenen versehen.
Fast immer waren die Karten mit einem Ablass und den Namen der Druckereien versehen. © Elisa Pfitscher/MuseumPasseier
Interessante Entwicklung in ihrer künstlerischen und inhaltlichen Form der Sterbebildchen. Ältere Kärtchen halten sich grundsätzlich an wenige Regeln, denn ihre Formen weichen stark von der heutigen einheitlichen Form ab. Wie Werner Ollig und Werner Thaler im Montaner Sterbebilderbuch ausführlich beschrieben haben, wurde anfänglich auch bei uns im Kupferstichdruck produziert, ab 1840 im neuen Stahlstichdruckverfahren. Bis in die 1960er war es zunächst üblich, dass Heiligen- und Andachtsbilder, welche in großen Druckereien gefertigt wurden, zu Sterbebilder umfunktioniert wurden, indem auf die Rückseite der Nachruf für den Verstorbenen von einer kleineren Druckerei in der näheren Umgebung gedruckt oder handschriftlich angebracht wurde. Der Name der Druckerei war meist am unteren Rand der jeweiligen Seite genannt.
Von den gewöhnlichen schwarz-weißen Motiven zu verspielten Ton in Ton Abbildungen. Seit 1860 gebrauchte man die Lithografie, den Steindruck für die Herstellung der Kärtchen. 20 Jahre später konnten die Bilder bereits mithilfe der Chromlithografie erstmals in Farbe gedruckt werden, damals aber fast ausschließlich nur die Bildseite. Ab der gleichen Zeit versah man die Karte mit einem Foto der Verstorbenen, zunächst sorgfältig zugeschnitten und anschließend in die dafür vorgesehenen Felder geklebt. Mit der Zeit nahm das Abbild des Verstorbenen immer größeren Platz ein. Fast alle Sterbebilder weisen eine schwarze Umrandung auf, den Trauerrand.
Hinter dem Brauch steckt nach wie vor die Tragik des Todes. Oft dauerte es eine Weile, bis das fertige Sterbebild in der Heimatgemeinde unter Familie und Freunde verteilt werden konnte. Es ergab sich so, dass sich auf einem Kärtchen gleich mehrere Personen befanden, welche in der letzten Zeit aus derselben Familie verstorben waren. So findet man auf einigen Kärtchen bis zu vier Verstorbene. Exemplarisch hierfür ist das Sterbebild der Familie Tribus vom Obergrafeishof im Gemeindegebiet von St. Leonhard. Bei einem Murenabgang im Juli 1940 kamen drei der vier Familienmitglieder ums Leben. Nur die Tochter überlebte das Unglück in dieser fürchterlichen Nacht.
Der tragische Fall der Familie Tribus von Obergrafeis in St. Leonhard, welche in der Nacht vom 03. Juli 1940 von einer Mure überrascht und getötet wurde. © Elisa Pfitscher/MuseumPasseier
Ein Anstoß, damit sich das Rad der Erinnerung dreht. Für die Nachwelt besonders bedauerlich ist die Kürzung der Informationen auf der Sterbekarte: Die heutigen Sterbebilder geben neben dem Namen und dem Sterbedatum, einem Foto und einem frommen Spruch, nicht viel Auskunft über das Leben und Ableben des verstorbenen Menschen. Diese wenigen Zeilen, oft versehen mit einer Beschreibung der Persönlichkeit und den Umständen des Todes, machen den Blick in die Vergangenheit besonders lebhaft. Mit einigen Informationen lässt sich viel erahnen und so mancher kann sich nach einem kleinen Gedankenschubs an die Momente, als man von dem Tod des oder der Bekannten hörte, erinnern.
De mortuis nihil nisi bonum - Über Tote spricht man nur gut: So waren die Beschreibungen der Verstorbenen auf den Kärtchen immer etwas gnädig formuliert: Der Verewigte war ein vorbildlicher Gatte und Familienvater; Sein Leben war Wohltun und rastlose Arbeit; Gebet und Kirchenbesuch war für ihn selbstverständlich; In der Gemeinde war er hochgeachtet und sein Leben war geprägt von seinem ausgezeichneten Geschäftssinn… © Elisa Pfitscher/MuseumPasseier
„Zur frommen Erinnerung im Gebete“. Heute steht anstelle des Gebetes häufig ein Gedicht oder ein bekanntes Zitat. Die Fotos wurden größer, aus Platzmangel wurden es faltbare Doppelblätter. Statt frommer Motive wie Christus am Kreuz und die betende Madonna sind Kunstdarstellungen und landschaftliche Motive zu sehen.
Oft verwendete Motive bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. © Elisa Pfitscher/MuseumPasseier
Einen festen Platz in der Gesellschaft. Wenn sie auch eine immense Veränderung innerhalb der letzten 150 Jahre durchgemacht haben, so behalten Sterbebilder immer noch einen festen Platz im Ritual der Verabschiedung eines Dahingeschiedenen. Sie sind für die Beschäftigung mit der Geschichte unerlässlich und nicht weniger bedeutsam für die Ahnenforschung. Wie lange es sie noch geben wird, ist unklar. Denn mittels Digitalisierung finden viele alte Traditionen ein Ende. Das Durchwühlen von alten Sterbebildern garantiert jedoch, dass man sich in vergangene Zeiten begibt und ein wenig nostalgisch und ehrfürchtig wird.
Der Wifling in der Badewanne
Von einem der auszog, um gewaschen zu werden.
Von einem der auszog, um gewaschen zu werden.
Von Judith Schwarz.
Fotos: Rita Graf
Möglichst nicht waschen! So lautet die Devise von Trachtenexpert*innen in punkto Wiflingkittel. Als Wifling bezeichnet man einen groben Stoff aus Schafwolle mit Kettfäden aus Leinen oder Seide. Ein Trachtenrock aus eben diesem Wifling ist ein unglaublich schweres Ungetüm aus vielen Metern Gewebe, das Frauen einst auf ihren Hüften trugen bzw. wohl mehr schleppten. Typisch für den Wiflingkittel sind die Stehfalten, die aus dem eh schon dicken und steifen Stoff ein Koloss an Kleidungsstück machen.
Daher hat man wohl ein walzenartiges Stück von einem Wesen, aber kein Weib, erklärt 1852 ausgerechnet der Priester Beda Weber seine Ansicht über die Passeirerinnen im dunklen Wollrock. Abgesehen von der mangelnden Weiblichkeit beklagt er auch die fehlende Reinlichkeit in Bezug auf Kleidung: "Der Schmutz legt sich durch unmäßig langen Gebrauch so tief hinein, daß er ganz schwarz aussieht". Wobei wir beim Thema wären.
Darf man Museumsobjekten den Schmutz der Jahrhunderte einfach abwaschen? Den Straßenstaub und Alltagsdreck, den Schweiß und Urin? Möglicherweise schwänzt man damit auch die Aura des Objekts in den Abguss? Oder, wenn nicht die Aura, dann zumindest den typischen Geruch. Da wir erste Spuren von Mottenbefall an unserem Wiiflingkiitl bemerkten, entschieden wir uns, auf Aura und Geruch zu verzichten, dafür aber den Stoff zu retten. Und so nahm Museumsmitarbeiterin Rita den “Weiberrock” für ein Wochende mit nach Hause.
Wir meinten, wir hätten einen schwarzen Kittel. Nach dem Waschen stellten wir fest, er ist rötlich-dunkelbraun. Insgesamt hat er die Behandlung mit Schmierseife und Essigwasser in Ritas Badewanne gut überstanden. Und unsere Befürchtungen zerfielen wie Mottenfraß: Das dunkle Gewebe aus Schafwolle war intakt geblieben und plötzlich wieder wollweich, der helle Innensaum hatte sich nicht verfärbt, die roten Kettfäden aus Leinen hatten gehalten. Rita ließ also erleichtert die dunkelbraune Soße, in der unser Stoffmonster geschwommen hatte, aus ihrer Wanne.
Schmutz und Geruch des Wiflingkittels schwimmen im Badewasser. © Rita Graf/MuseumPasseier
Möglichst nicht waschen! ermahnte uns einige Liter Abtropfwasser später ein Trachtenschneider aus St. Martin, den wir vor der Badewannenmission telefonisch nicht erreicht hatten. Während der vollgesaugte Wifling an sein Bad (womöglich das erste in seinem Leben) zurückdachte und gemütlich vor sich hin tröpfelte, erzählte uns Hansjörg Götsch, über den besonderen Stoff und was es mit der Kombination Wasser und Wifling auf sich hat.
Hier eine Zusammenfassung aus dem Gespräch mit Hansjörg Götsch, Jg. 1944:
Der Wiflingstoff wurde auf dem Webstuhl handgewebt. Die Kettfäden, das sind die, die endlos lang sind, die sind aus Seide. Purpurfarbene Seide. Der Schuss, das sind die Querfäden, der ist aus Wolle.
Es hat früher einen eigenen Markt für Wiflingstoff gegeben, im Ötztal glaube ich. Ich kann mich aber auch erinnern, dass mein Vater und andere Männer immer vom Wiflinghandel gesprochen haben. Wenn sie zum Haareschneiden oder Rasieren gekommen sind, habe ich das Wort oft aufgeschnappt.
Das waren die 1950er Jahre. Und das waren Männer, die selber nicht Stoff gekauft haben. Ob es zu der Zeit noch den Wiflinghandel gegeben hat, weiß ich nicht. Sie haben es wohl meist als Witz gemeint, so als Spruch. Vielleicht war es so gemeint: Wenn man auf den Wiflinghandel gehen konnte, dann hatte man Geld.
Ganz sicher hat sich nicht jede Frau einen Wiflingkittel leisten können. Das waren vor allem die angesehenen Bäuerinnen, die gut situiert gewesen sind. Auf Baumkirch in St. Martin beispielsweise hatte man zwei solche Kittel, auf Steinhaus auch. Aber ganz viele Kittel waren nicht vorhanden. Diese Wiflingkittel sind zur Zeit der Weltkriege abgekommen, als kein Wohlstand mehr war. In den 1950er Jahren weiß ich nur mehr die Marketenderinnen, dass die einen getragen haben, wenn sie halt mit der Musikkapelle ausgerückt sind.Dass die Frauen sich so dick ausstaffiert haben, verstehen wir heute nicht mehr. Das ist wohl vergleichbar mit den Adeligen, die früher ein besonderes Gestell hatten, damit die Frauen um die Hüfte fülliger ausschauten. Was die alles für ein Zeug anhatten! So ähnlich ist es bei unserem Miederleibchen gewesen. Das Miederleibchen hatte am unteren Ende eine richtige Wurst aus Stoff angenäht. Und daran wurde der Kittel aufgehängt. Diese Wurst war eine Art Auflage, damit der Kittel gehalten hat.
Die Männertracht und Männerkleidung hat der Schneider gemacht. Das Zeug für die Weiberleit, das haben meistens nicht die Schneider gemacht, sondern die Schneiderinnen.
Die “Nooterinnen” – das Wort haben zu unserer Jugendzeit noch alle benutzt – das waren die Schneiderinnen. Der Schneider war immer der Schneider, die Schneiderinnen waren die “Nooterinnen”. Warum man den selben Beruf bei Männern und Frauen anders genannt hat, weiß ich auch nicht. Meist gingen die Schneider und “Nooterinnen” auf die Stör. Meine Großmutter war eine “Nooterin”, sie hat es von ihrer Mutter gelernt.
Ich vermute, dass die “Nooterinnen” früher nur eine Rocklänge gemacht haben. Ob die Frauen überhaupt vorher gekommen sind zum Probieren, weiß ich nicht. Außer jemand konnte nach Maß bestellen. Man hatte wahrscheinlich nur eine Rocklänge gemacht: Bei einer großen Frau war der Rock dann halt zu kurz, bei einer kleinen Frau zu lang. Das sieht man auch auf den alten Fotos.
Bei diesem Wiflingkittel ist die Naht teilweise von Hand genäht, und zwar sehr schmal gestochen, ein Teil ist mit der Maschine gemacht. Den dicken Teil musste man von Hand nähen, früher hätte das keine Nähmaschine geschafft. Ein Teil, der unter dem Schurz versteckt ist, ist später mal geflickt worden. Alles mit Hinterstich. Man hat früher einfach viel mehr gespart mit dem Stoff. So viel wegschmeißen, wie wir heute tun, das ist früher einfach nicht gegangen. Es gibt zwei Aufhänger, eventuell hat man den Kittel einfach damit im Raum aufgehängt.
Der Wiflingkittel ist nie gewaschen worden, da bin ich mir sicher. Aber wenn er nass geworden ist, vom Regen oder so, dann haben die Falten nicht mehr richtig gehalten. Dann musste man die Falten wieder einziehen. Ich selbst habe das Falten-Einziehen nie gemacht, ich weiß halt, dass man es früher gemacht hat.
Zum Beispiel, wenn Marketenderinnen zu einem Umzug – meinetwegen aufs Oktoberfest – gefahren sind. So in den letzten 1950er Jahren und anfangs der 1960er sind sie sicherlich nach München hinaus. Die haben bei solchen Ausflügen ja nur dieses eine Gewand angehabt. Sie haben es hier angezogen, sind hinausgefahren und nach dem Umzug dann wieder herein. Oder sie haben draußen übernachtet. Wenn es vom Regen platschnass geworden ist, dann mussten sie vor dem Schlafengehen noch die Falten einziehen. Sonst hat der Kittel morgens ja ausgeschaut, so ohne Falten!
Der Faden wird mit einer Nadel quer durch die Falten eingezogen. Zuerst etwas unterhalb der Taille, dann in der Mitte und dann nochmal ganz unten am Rockende. Dann wird der Kittel gepresst und wenn die Falten dann am nächsten Tag wieder richtig halten, dann hat man den Faden wieder rausgezogen.
Ergänzung vom 22. September 2022:
Unserem frisch gewaschenen Wiflingkittel wurden mittlerweile wieder Falten gemacht. Hansjörg Götsch hat sie eingezogen und wir werden uns hüten, den Kittel nochmal in die Nähe von Wasser zu lassen. Ehemalige Marketenderinnen aus Passeier, die noch Wifling-Trachtenröcke getragen haben, haben wir bis dato keine gefunden.
Petit chapeau
Ein Hut mit zwei Spitzen und vielen Fragezeichen.
Awäck as wië a Huat, sagen die Passeirer*innen, wenn etwas oder jemand abrupt verschwindet. Dieser Hut hingegen ist plötzlich im Depot aufgetaucht, und zwar ist er unserem Museumspraktikanten Lukas in die Hände gefallen, was ihn zu einigen Recherchen veranlasst hat. © MuseumPasseier
Ein Hut mit zwei Spitzen und vielen Fragezeichen.
Von Lukas Ennemoser
Vor kurzer Zeit, als ich im Museum arbeitete, kam mir ein interessanter Hut unter. Die Kopfbedeckung erweckte sogleich meine Neugier und ich begann mich zu fragen, welchen Weg so ein Hut etwa hinter sich haben könnte. So begann die Reise meiner Nachforschung.
Beim Hut handelt es sich um einen Zweispitz, ähnlich jenem des Napoleon. Diese Hutform war sehr beliebt zwischen 1790 und 1820, besonders bei Adeligen und Beamten. Der Zweispitz entwickelte sich aus dem Dreispitzhut und löste diesen nach und nach ab. Auch im Militär fand der Zweispitz bald seinen Platz, was die Unterscheidung zwischen Aristo- bzw. Bürokratenhut und Offiziershut schwierig macht. Einzig die Verzierungen konnten einen Unterschied ausmachen, so hatten beispielsweise Offiziere des öfteren Schmuck wie Kokarden (kreisrunde Abzeichen) oder Knöpfe auf ihren Zweispitzen.
Auch der Zweispitz des Museums hat eine Kokarde und sogar Straußenfedern. Daraufhin habe ich mich prompt bei mehreren Museen umgehört, unter anderem beim Deutschen Hutmuseum Lindenberg. Sogar diese meinten, dass diese Art von Hüten meistens von Staats- und Stadtbeamten getragen wurden. Daraus würde sich schließen lassen, dass auch der ehemalige Besitzer unseres Zweispitzes einen solchen Stand gehabt haben sollte. Das Hutmuseum teilte mir außerdem noch mit, dass die Beamtenuniform von damals eine Synthese zwischen Bürgertum und Militär darstellte.
Wem gehörte nun dieser Zweispitz? Der Hut ist dem Museum einst von einem Meraner im Auftrag der Hutbesitzerin überbracht worden: Er soll aus dem Nachlass einer ihrer Vorfahren stammen, den Meraner Bürgermeistern Franz Putz (1824-1894) oder Gottlieb Putz (1818-1886). All dies deutet darauf hin, dass es wahrscheinlich stimmte, dass Beamte diesen trugen.
Ein Herrenhut aus schwarzem Filz mit Straußenfedern und blau-rot-gelber Kokarde. Wer wird ihn einst stolz auf dem Kopf oder lässig unterm Arm getragen haben? © MuseumPasseier
Abbildungen der Bürgermeister Putz mit Zweispitz habe ich keine gefunden. Aber sicherlich gibt es Beispiele, welche untermalen, dass der Zweispitz für Beamte bzw. hohe Standespersonen bestimmt war. Also begab ich mich auf die Suche nach Zweispitzträgern. Als Historiker in spe bezog ich mich natürlich auf alte Bildnisse und besuchte die Datenbank Tiroler Porträts. Nach langem Scrollen und dem Anschauen von 3000+ Abbildungen war mein Fund ein ernüchternder. Allerdings habe ich bei der Durchforstung sehr viele super gezeichnete Bilder gefunden. Aber um zurück zum Punkt zu kommen: Es gibt zwei Kandidaten, welche mit einem potentiellen Zweispitz auf dem Kopf dargestellt sind: Johann Florian de Inama und Johann Michael Lachmüller von Hofstatt und Gravötsch.
Kein Hinweis auf den Huthersteller im violetten Innenfutter. Aber der geringe Durchmesser verrät etwas über den Hutbesitzer: Er hatte keinen allzu großen Kopf. © MuseumPasseier
Wieso fand dieser Hut nun den Weg ins MuseumPasseier? Wie bei vielen Objekten ist dies ein ungeklärtes Phänomen, jedoch spekuliere ich, dass die ehemalige Besitzerin sich dachte: „Französischer Hut? Andreas Hofer hatte ja auch irgendwas mit Franzosen zu tun, das passt schon!“ So oder so, dieses Museum ist seitdem um einen Zweispitz reicher, was nicht jedes behaupten kann. Ich persönlich beschwere mich darüber gewiss nicht!